[13937] Fortsetzung der Hauptverhandlung am Donnerstag, 28. April 1977, um 9.01 Uhr
(192. Verhandlungstag)
Gericht und Bundesanwaltschaft erscheinen in derselben Besetzung wie am 175. Verhandlungstag.
Als Urkundsbeamte sind anwesend:
JustOSekr. Janetzko und JustAss. Scholze.
Die Angeklagten sind nicht anwesend.[1]
Als deren Verteidiger sind anwesend, RAe.
Dr. Holoch (als Vertreter für RA Schwarz), Schnabel, Eggler, Schlaegel und Grigat.
- Die Vertretung von RA Schwarz durch RA Dr. Holoch wird genehmigt -
Der Vorsitzende verkündet folgendes Urteil:
IM NAMEN DES VOLKES!
1. Die Angeklagten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sind schuldig, folgende Taten jeweils gemeinschaftlich[2] begangen zu haben:
a) 3 tateinheitliche[3] Morde[4] in Tateinheit mit 6 versuchten[5] Morden,
b) einen weiteren Mord in Tateinheit mit einem versuchten Mord,
c) in zwei Fällen jeweils einen versuchten Mord,
d) in einem Fall zwei tateinheitliche versuchte Morde,
[13938] e) in einem weiteren Fall 23 tateinheitliche versuchte Morde,
f) in sämtlichen Fällen zugleich eine tateinheitlich herbeigeführte Sprengstoff-Explosion.[6]
2. Außerdem sind schuldig:
a) der Angeklagte Baader zweier versuchter Morde,
b) der Angeklagte Raspe zweier tateinheitlich begangener versuchter Morde,
c) die Angeklagte Ensslin eines versuchten Mordes,
d) in den Fällen a) bis c) jeweils in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.[7]
3. Jeweils in Tateinheit mit den unter 1.) und 2.) angeführten Taten sind die Angeklagten schuldig, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben.[8]
4. Jeder der drei Angeklagten wird zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
5. Die in der Anlage in den Listen I bis XL aufgeführten Gegenstände werden eingezogen.[9]
6. Die Angeklagten tragen die Kosten des Verfahrens.[10]
Nach der Verlesung der Urteilsformel gibt der Vorsitzende folgenden Hinweis:
Wie sich aus der soeben verlesenen Urteilsformel in Verbindung mit den noch bekanntzugebenden Urteilsgründen[11] ergibt, beläßt es der Senat bei der in der Hauptverhandlung vom 19. Mai 1976 vorgenommenen Beschränkung der Strafverfolgung [13939] auf die Straftaten im Zusammenhang mit der Festnahme der Angeklagten, mit Sprengstoffanschlägen an den noch zu nennenden Orten und mit dem Vorwurf der kriminellen Vereinigung (§ 154a StPO).[12]
Sodann wird folgender Beschluß verkündet:
Die Untersuchungshaft des Angeklagten Baader aus dem Haftbefehl vom 6. Mai 1974, der Angeklagten Ensslin aus dem Haftbefehl vom 6. Mai 1974 und des Angeklagten Raspe aus dem Haftbefehl vom 9. April 1974
hat fortzudauern,
doch beschränkt sich der dringende Tatverdacht auf den Umfang der Verurteilung.
Gründe:
Der dringende Tatverdacht[13] ergibt sich aus dem Urteil. Die in den Beschlüssen genannten Haftgründe[14] bestehen fort.
- - -[a]
Der Vorsitzende gibt nunmehr die wesentlichen Urteilsgründe bekannt.
Die Bekanntgabe der wesentlichen Urteilsgründe wurde durch eine Pause von 10.50 - 11.15 Uhr unterbrochen.
Rechtsmittelbelehrung[15] wurde erteilt unter Berücksichtigung des Umstands, daß die Angeklagten bei der Verkündung des Urteils nicht anwesend waren.[16]
Daraufhin wurde die Verhandlung vom Vorsitzenden um 11.47 Uhr geschlossen.
Dr. Eberhard Foth Janetzko JustOSekr.
Das Protokoll wurde am 19.9.1977 fertiggestellt.
Siegel des Oberlandesgerichts Stuttgart am 7. März 1978 zur Anfertigung von Fotokopien gelöst.
Am 7. März 1978 nach Prüfung und Versiegelung wieder geschlossen.
Karlsruhe, den 7. März 1978
[1] Die Strafprozessordnung sieht eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht der Angeklagten vor (§ 231 Abs. 1 StPO). Dass es den Angeklagten in diesem Verfahren freigestellt war, die Hauptverhandlung zu verlassen, ergab sich aus der Annahme der vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführten Verhandlungsunfähigkeit, die nach § 231a StPO grundsätzlich die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten ermöglicht (s. hierzu den Beschluss des 2. Strafsenats, abgedruckt in Anlage 1 zum Protokoll vom 30. September 1975, S. 3124 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, 40. Verhandlungstag), sowie der Vorgabe des BGH, den Angeklagten dürfe ihre Anwesenheit nicht untersagt werden (BGH, Beschl. v. 22.10.1975 – Az.: 1 StE 1/74 – StB 60-63/75, BGHSt 26, S. 228, 234).
[2] Die Annahme von Mittäterschaft (§ 47 StGB a.F.; heute: § 25 Abs. 2 StGB) ermöglicht das wechselseitige Zurechnen objektiver Tatbeiträge anderer Beteiligter, wenn die gemeinschaftliche Tatausführung auf einem gemeinsamen Tatplan beruht. Wie diese Form der Täterschaft von der bloßen Teilnahme an der Tat einer anderen Person abgegrenzt wird, ist umstritten. Während die Rechtsprechung bis in die 1970er einen vorwiegend subjektiven Ansatz verfolgte, der maßgeblich auf den Täterwillen abstellte (sog. animus-Theorie; s. noch BGH, Urt. v. 12.3.1974 – Az.: 1 StR 39/77, GA 1977, S. 306) stellt die Literatur überwiegend darauf ab, ob eine beteiligte Person objektiv einen wesentlichen Beitrag geleistet hat (funktionelle Tatherrschaft). Inzwischen zieht die Rechtsprechung neben subjektiven auch objektive Elemente heran (sog. normative Kombinationstheorie). Für einen Überblick s. Joecks/Scheinfeld, in Joecks/Miebach [Hrsg.], Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 4. Aufl. 2020, § 25 Rn. 24; für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1962 bis 2015 sowie eine weitere Differenzierung innerhalb der Literatur s. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 9. Aufl. 2015, S. 559 ff.; 674 ff.).
[3] Nach § 73 Abs. 1 StGB a.F. (heute: § 52 Abs. 1 StGB) wird nur auf eine Strafe erkannt, wenn „dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals“ verletzt (Tateinheit). Was unter einer Handlung zu verstehen ist, ist im Einzelnen durchaus umstritten. Auch bei mehreren Einzelakten kann unter bestimmten Voraussetzungen eine einheitliche Handlung angenommen werden (s. zu den Fallgruppen v. Heintschel-Heinegg, in Joecks/Miebach [Hrsg.], Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2020, § 52 Rn. 12 ff.). Richten sich einzelne Akte gegen höchstpersönliche Rechtsgüter wie das Leben, kommt die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit in der Regel nicht in Betracht, da höchstpersönliche Rechtsgüter grundsätzlich nicht additiv betrachtet werden. Ausnahmen bestehen aber, wenn ein derart enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht, dass es gekünstelt erschiene, das Tatgeschehen in Einzelhandlungen aufzuspalten (BGH, Urt. v. 10.09.2019 – Az.: 3 StR 180/19, NStZ-RR 2020, S. 136, 137). Da es sich hier um Verletzungen infolge von Explosionen handelt, ist ein solcher Zusammenhang zu bejahen, selbst bei Einsatz mehrerer Sprengkörper in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang. Die tateinheitliche Begehung hat zur Folge, dass die Strafe nach dem Gesetz bestimmt, das die schwerste Strafe androht; weist einer der verwirklichten Tatbestände eine Mindeststrafe auf, so darf die Strafe nicht milder sein (§ 73 Abs. 2 StGB a.F.; heute: § 52 Abs. 2 StGB). Für Mord ist die Strafe zwangsläufig eine lebenslange Freiheitsstrafe (§ 211 Abs. 1 StGB).
[4] Strafbar gem. § 211 StGB.
[5] Eine Straftat versucht, wer „den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens oder Vergehens enthalten, betätigt hat“ (§ 43 Abs. 1 StGB a.F.; heute mit abweichender Definition in § 22 StGB). Strafbar ist dies, wenn es sich bei der versuchten Tat um ein Verbrechen (Mindestfreiheitsstrafe von 1 Jahr, § 1 Abs. 1 StGB a.F.; heute: § 12 Abs. 1 StGB) handelt, oder die Versuchsstrafbarkeit ausdrücklich im Gesetz bestimmt ist. Die versuchte Tat kann milder bestraft werden als die vollendete (§ 44 Abs. 1 StGB a.F.; heute: § 23 Abs. 2 StGB).
[6] Strafbar gem. § 311 StGB a.F. Der Grundtatbestand der Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion (§ 311 Abs. 1 StGB a.F.) ist heute in § 308 Abs. 1 StGB geregelt. Das damalige Regelbeispiel des § 311 Abs. 3 StGB a.F. – die leichtfertige Verursachung des Todes eines Menschen durch die Tat – ist heute als Erfolgsqualifikation in § 308 Abs. 3 StGB mit einer Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bedroht.
[7] Strafbar gem. § 113 StGB.
[8] Strafbar nach § 129 StGB.
[9] Nach § 40 Abs. 1 StGB a.F. (heute: § 74 Abs. 1 StGB) können Gegenstände, die durch eine vorsätzliche Tat hervorgebracht, oder zu ihrer Begehung oder Vorbereitung gebraucht worden oder bestimmt gewesen sind, eingezogen werden. Die Einziehung war nur zulässig, wenn die Gegenstände zur Zeit der Entscheidung dem/der Täter/in oder Teilnehmer/in gehörten oder zustanden oder von ihnen eine Gefahr (für die Allgemeinheit oder die Begehung weiterer mit Strafe bedrohten Handlungen) ausging (§ 40 Abs. 2 StGB a.F.; heute: § 74 Abs. 3 Satz 1, 74b Abs. 1 Nr. 2 StGB). Das System der Einziehung wurde zuletzt mit Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.2017 (BGBl. I, S. 872) umfassend reformiert.
[10] Die Kosten des Verfahrens hat im Falle einer Verurteilung grundsätzlich der/die Angeklagte zu tragen (§ 465 Abs. 1 StPO). Sind besondere Kosten entstanden durch Untersuchungen, die zugunsten des/der Angeklagten ausgegangen sind, hat das Gericht die Kosten ganz oder teilweise der Staatskasse aufzuerlegen, wenn eine Belastung des/der Angeklagten unbillig wäre (§ 465 Abs. 2 StPO).
[11] Für die Frist, innerhalb derer die Urteilsgründe bekanntzugeben sind, bestimmt § 275 Abs. 1 StPO: „Ist das Urteil mit den Gründen nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen worden, so ist es unverzüglich zu den Akten zu bringen. Dies muß spätestens fünf Wochen nach der Verkündung geschehen; diese Frist verlängert sich, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat, um zwei Wochen, und wenn die Hauptverhandlung länger als zehn Tage gedauert hat, für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen um weitere zwei Wochen. Nach Ablauf der Frist dürfen die Urteilsgründe nicht mehr geändert werden. Die Frist darf nur überschritten werden, wenn und solange das Gericht durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren unabwendbaren Umstand an ihrer Einhaltung gehindert worden ist.“
[12] Ebenfalls angeklagt waren ursprünglich verschiedene Raub- und Diebstahlsdelikte. Fallen einzeln abtrennbare Teile einer Tat oder einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen, die durch dieselbe Straftat begangen worden sind, für die zu erwartende Strafe nicht ins Gewicht, so kann das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung auf die übrigen Teile der Tat oder die übrigen Gesetzesverletzungen beschränken (§ 154a Abs. 2 StPO). Die Bundesanwaltschaft hatte bereits am 113. Verhandlungstag beantragt, die Strafverfolgung auf die Taten im Zusammenhang mit den Sprengstoffanschlägen, den Festnahmen der Angeklagten sowie der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu beschränken (S. 9859 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung; s. auch den Hinweis des früheren Vorsitzenden Dr. Prinzing am selben Tag auf S. 9867 f. des Protokolls der Hauptverhandlung).
[13] Der dringende Tatverdacht ist Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls (§§ 112, 114 StPO) und erfordert eine große Wahrscheinlichkeit, dass die verdächtige Person die jeweilige Tat begangen hat, sowie dass keine Rechtfertigungs- Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgründe vorliegen, mithin eine große Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung. Die Prognose ist zum Zeitpunkt des jeweiligen Standes der Ermittlungen zu treffen (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Aufl. 2020, § 112 Rn. 5 f.).
[14] § 112 StPO beinhaltet die Haftgründe, bei deren Vorliegen Untersuchungshaft angeordnet werden darf. Während in Abs. 2 konkrete Gründe aufgezählt, die die Durchführung eines Strafverfahrens beeinträchtigen könnten, nämlich Flucht (Nr. 1), Fluchtgefahr (Nr. 2), sowie Verdunkelungsgefahr (Nr. 3 lit. a-c), enthält Absatz 3 Straftatbestände, die im Falle eines dringenden Tatverdachts auch ohne Vorliegen eines gesonderten Haftgrundes die Anordnung der Untersuchungshaft ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht legt diese Vorschrift wegen eines andernfalls anzunehmenden Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzips verfassungskonform so aus, dass weitere Umstände hinzutreten müssen, welche die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme die Ahndung oder Aufklärung der Straftat eingeschränkt wäre, etwa aufgrund nicht auszuschließender Fluchtgefahr im Hinblick auf die hohe Strafandrohung der aufgezählten Straftatbestände (BVerfG, Beschl. v. 15.12.1965 – Az.: 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, S. 342, 350).
[15] Gegen erstinstanzliche Urteile des OLG ist das Rechtsmittel der Revision statthaft (§ 333 StPO), mit dem ausschließlich Rechtsfehler, d.h. die Nicht- oder Falschanwendung einer Rechtsnorm, gerügt werden können (§ 337 StPO).
[16] Die Revisionsfrist beträgt grundsätzlich eine Woche nach Verkündung des Urteils (§ 341 Abs. 1 StPO); hat die Verkündung des Urteils allerdings nicht in Anwesenheit der Angeklagten stattgefunden, so beginnt die Frist für sie erst mit der Zustellung (§ 341 Abs. 2 StPO a.F.); heute enthält die Vorschrift eine Rückausnahme, wenn ein/e Verteidiger/in mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht anwesend war.
[a] Handschriftlich eingefügt: - - -