[2256] Fortsetzung der Hauptverhandlung am Donnerstag, den 21.8.1975, um 9.05 Uhr
(28. Verhandlungstag)
Gericht und Bundesanwaltschaft - mit Ausnahme von Regierungsdirektor Widera - erscheinen in derselben Besetzung wie am 1. Verhandlungstag.
Als Urkundsbeamte sind anwesend:
Just. Ass. z. A. Clemens, Just. Ass. z. A. Scholze
Die Angeklagten sind nicht anwesend.
Als Verteidiger sind erschienen:
Rechtsanwälte Künzel, Schnabel, Schwarz, Herzberg (als Vertr. von RA Schlaegel)[a], König, Linke und Grigat.
Vors.:
Ich bitte Platz zu nehmen. Wo ist denn der Herr Bietz?
Ja, ist der Herr Bietz nicht im Saale.
RA König:
Er ist gerade durchgelaufen.
Vors.:
Wir können trotzdem zunächst beginnen. Es ist festzustellen, daß im Augenblick anwesend sind, d.h. wir ziehen ab, zunächst Herr Rechtsanwalt Eggler hat sich entschuldigt. Er ist heute früh nicht anwesend, wohl auch heute nachmittag nicht. Herr Rechtsanwalt Dr. Heldmann, Herr Rechtsanwalt Schily fehlen ebenfalls.
-Rechtsanwältin Becker, Dr. Temming als Vertr. von RA Riedel[b] und Rechtsanwalt von Plottnitz erscheinen um 9.07 Uhr-
RA’in B[ecker]:
Rechtsanwalt Schily ist da.
Vors.:
Kommt gleich, gut in Ordnung.
-Rechtsanwalt Schily erscheint um 9.08 Uhr-
Vors.:
Dann haben wir hier Herrn Gerichtsreferendar Dr. Temming als amtlichen bestellten Vertreter[1] von Herrn Rechtsanwalt [2257] Riedel.
-Siehe Anlage 1 zum Protokoll-
Vors.:
Zunächst ist bekannt zu geben, nachdem gestern gegen den Ausschluß der Angeklagten für den Rest der Woche[2] Gegenvorstellungen erhoben worden sind, daß der Senat folgendes beschlossen hat:
Bei dem Ausschluß der Angeklagten für die Dauer dieser Woche verbleibt es.
Gründe:
Die Angeklagten stören die Verhandlung immer wieder. Die Störungen waren häufig so nachhaltig, daß die Angeklagten von der Verhandlung ausgeschlossen werden mußten, letztmals am 19.8.1975, einmal vormittags, einmal nachmittags. Die Störungen geschahen bei den verschiedensten Anlässen und zu den verschiedensten Zeiten. Die Störung, die zu dem hier behandelnden Ausschluß führte, geschah ohne ersichtlichen Grund zu einem Zeitpunkt, da der Verteidiger der Angeklagten Ensslin, Rechtsanwalt Schily, soeben die Stellung eines Antrags angekündigt und die Verhandlungsdauer noch keine zwei Stunden betragen hatte. Unter diesen Umständen befürchtet der Senat, daß es im Laufe des 21.8.1975, dem noch verbleibenden Verhandlungstag dieser Woche, erneut zu nachhaltiger Störung der Hauptverhandlung kommen werde. Wie schon in den bisherigen Fällen hält der Senat die Anwesenheit der Angeklagten während der Dauer des Ausschlusses nicht für unerläßlich.[3] Die von Rechtsanwalt Dr. Heldmann bei der Gegenvorstellung aufgestellte[c] Behauptung, der Senat habe den Ausschluß provoziert, stellt die Dinge auf den Kopf.
Nunmehr, Herr Rechtsanwalt Schily, haben Sie das Wort zur Fortsetzung Ihrer Antragsbegründung.
RA von Plottnitz:
Darf ich zuvor um das Wort bitten? Ich möchte einen kurzen Antrag stellen.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt Schily ist im Augenblick mitten in der Begründung eines Antrags. Ich bitte, Ihren Antrag zurückzustellen, bis der Antrag zu Ende begründet ist.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ich kann leider nicht darauf verzichten, der Antrag betrifft die [2258-2259][4] [2260] Frage der Anwesenheit des Mandanten. Ich hatte gestern insoweit keinen Antrag gestellt, wie Ihnen erinnerlich ist.
Vors.:
Es wäre dann jetzt die zweite Gegenvorstellung. Eine solche zweite Gegenvorstellung ist nicht möglich.[5]
RA v[on ]P[lottnitz]:
Es ist keine zweite Gegenvorstellung. Gestern haben der Kollege Riedel, wenn ich mich entsinne, hat der Kollege Riedel beantragt für Frau Meinhof den gestrigen Beschluß rückgängig zu machen. Ich hatte einen entsprechenden Antrag gar nicht gestellt.
Vors.:
Gut. Bitte Herr Rechtsanwalt von Plottnitz.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ich darf im übrigen zunächst für den Kollegen Heldmann mitteilen, daß sein Erscheinen sich etwas verspäten wird.
Vors.:
Danke.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ich hab also für den Herrn Raspe folgenden Antrag zu stellen:
Ich beantrage, die gestrige Anordnung, wonach Herr Raspe auch für den heutigen Sitzungstag von der Verhandlung auszuschließen ist, rückgängig zu machen und die heutige Sitzung in Anwesenheit des Gefangenen Raspe durchzuführen.
Diesen Antrag möchte ich kurz wie folgt begründen:
Gestern wurden die Gefangenen in einer Situation ausgeschlossen, die sich wie folgt darstellte. Herr Baader stand auf und mit ihm die übrigen Gefangenen und bat, so war’s, wie nicht das erste Mal, um seinen Ausschluß von der Verhandlung. Wenn das geschehen ist, dann haben sich die Gefangenen gestern wie auch sonst zu diesem Schritt allein, das versichern wir Ihnen, allein dadurch veranlaßt gesehen, daß sie ihrer eigenen Einschätzung zufolge sich gesundheitlich nicht in der Lage sehen oder in der Lage sahen, der Verhandlung mit der erforderlichen Konzentration und Leistungsfähigkeit zu folgen. Das ist also wichtig. Die Gefangenen haben bislang zu keinem Zeitpunkt etwa hier in irgendeiner Weise ihren Ausschluß von der Verhandlung angestrebt, um dadurch, sei es dem Gericht, sei es irgend jemand anderem gegenüber Verachtung oder ähnliches oder Mißachtung zu Kenntnis zu [2261] bringen. Wenn die Gefangenen selbst hier in solchen Situationen nicht aufgestanden sind oder nur selten aufgestanden sind und gesagt haben, soweit ich mich erinnere, ist es nur einmal geschehen durch die Gefangene Meinhof, und gesagt haben, ich kann jetzt nicht mehr, dann hat es damit ein sehr einfaches Bewenden, die Gefangenen wollen nicht und sehen keinen Sinn darin, in irgend einer Weise an die Möglichkeit zu appellieren, daß das Gericht auf gesundheitliche Belange, die sie selbst betreffen, entsprechende Rücksicht nimmt. Das ist also die Überlegung der Gefangenen, wenn sie selbst nicht aufstehen und sagen, ich bitte mich jetzt auszuschließen, weil ich nicht mehr kann. Der Senat hat in der Begründung des Beschlusses, der soeben verkündet worden ist, davon gesprochen, die Gefangenen hätten immer wieder gestört, es sei immer wieder zu Störungen gekommen. Wenn man sich die Genesis des gestrigen, und nicht nur des gestrigen Ausschlusses betrachtet, so muß man feststellen, daß diese Störungen nun in der Tat nicht von einer Qualität waren, die, wenn man sie überhaupt als Störung betrachten will, die ein Ausschluß über die Dauer eines Sitzungstages hinaus rechtfertigen könnten. Der Kollege Heldmann hat gestern sehr richtig davon gesprochen, daß in bestimmter Weise nicht der Ausschluß, aber sagen wir mal das definitive Verhalten der Gefangenen dann, das zum Ausschluß geführt hat, vom Senat provoziert wurde. Denn eins ist doch ganz offenkundig. Nicht nur gestern, sondern auch bei früheren Gelegenheiten haben die Gefangenen hier eindeutig ihre Absicht zu erkennen gegeben, den Hebel für ihren Ausschluß wie gesagt, von ihrer Seite subjektiv bedingt durch gesundheitliche Belange, durch eine entsprechende Selbsteinschätzung, den Hebel für ihren Ausschluß, wenn man so will, auf eine symbolische Störung zu beschränken. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Und was ist dann jeweils geschehen. Vom Senat scheint also keine Möglichkeit gesehen zu werden, dann, wenn eine symbolische Störung dieser Art hier eingetreten ist, den Ausschluß, wie von den Gefangenen erbeten, zu verfügen. Nein, es wiederholt sich stets dasselbe Spiel. Es wird also hier lang und breit eine Beleidigung, ein effektiv störendes Verhalten gefordert. Herr Baader hat gestern selbst das Wort Provokation, glaube ich, verwendet. Er sagt, wollen Sie uns hier wieder zu einer Beleidigung provozieren. Darauf legt also der Senat Wert, darauf legen nicht die Gefangenen Wert. Das [2262] wollen wir hier einmal festhalten. Und in diesem Zusammenhang kann auch nicht, weder den Gefangenen noch ihren Verteidigern, entgegen gehalten werden, daß die Anwesenheit eines Angeklagten in der Hauptverhandlung ein derartiges Rechtsgut sei, daß auf eine symbolische Störung hin ein Ausschluß nicht verfügt werden könne. Warum nicht? Die Anwesenheit eines Angeklagten in der Hauptverhandlung dient im wesentlichen dem Schutze seiner eigenen Interessen. Dem Schutze seiner Verteidigungsinteressen in einer Hauptverhandlung. Es gibt einen zweiten Aspekt, dem die Anwesenheit auch dient, nur spielte dieser Aspekt gestern keine Rolle. Dieser zweite Aspekt betrifft also das öffentlich-rechtliche Interesse an der Strafverfolgung, die öffentlichen Strafverfolgungsbelange. Ein solcher Zweck könnte allenfalls jedoch dann in Betracht kommen, wenn z.B. zu bestimmten Zeiten in der Beweisaufnahme die Anwesenheit eines Angeklagten erforderlich ist, weil sein äußeres Aussehen etwa im Zusammenhang mit Zeugenvernehmungen relevant sein könnte. In der jetzigen Phase dient die Anwesenheit der Gefangenen allein ihren eigenen, ihrem eigenen Schutz. Wenn die Gefangenen diesen Schutzzweck selbst nicht glauben erfüllen zu können und zwar aus gesundheitlichen Belangen und deshalb es zu einer symbolischen Störung kommen lassen, dann ist es eine ganz andere Frage. In keinem Fall kann von einer Situation ausgegangen werden, wie es der Senat bislang angenommen hat, den Ausschluß über einen Tag hinaus rechtfertigt. Ich bitte insoweit also für den Herrn Raspe den Beschluß von gestern, soweit er den heutigen Sitzungstag betrifft, rückgängig zu machen und die Hauptverhandlung zu unterbrechen und nicht weiter zu verhandeln, bis Herr Raspe im Sitzungssaal ist.
Vors.:
Die Bundesanwaltschaft ... Herr Rechtsanwalt Schily
(zur Bundesanwaltschaft) darf ich vielleicht zweckmäßigerweise noch die Herren Anwälte zuerst gesammelt zu Wort kommen zu lassen.
RA Sch[ily]:
Ich schließe mich dem Antrag des Kollegen von Plottnitz an für Frau Ensslin. Ich möchte zur Begründung eigentlich auch nur auf folgendes hinweisen. Die Vorschriften, die es dem Senat gestatten, ein Ausschluß zu verfügen, haben ja den Sinn, den ungestörten Ablauf der Hauptverhandlung zu gewährleisten. [2263] Das heißt, wenn also Störungen in der Hauptverhandlung auftreten, die mit keinem anderen Mittel, als die Ausschlußverfügung zu bewirken, wenn solche Störungen auftreten dann eben notfalls zu dieser Maßnahme zu greifen. Das mag also im gestrigen Fall durchaus rechtens gewesen sein. Wobei in der Tat, so wie diese Situation sich entwickelt hat, es auf Unverständnis der Verteidigung stößt, daß man nun meint, eine besonders nachhaltige Störung erst erwarten zu müssen seitens des Senats, bis die Ausschlußentscheidung ergeht. Man sollte sich da meiner Meinung nach durchaus begnügen mit, der Kollege von Plottnitz hat es eine symbolische Störung genannt, und ich kann Ihnen versichern, wenn das also hier irgendwo zur Debatte stehen sollte, die Verteidigung wird das nie zum Gegenstand einer Revisionsrüge[6] etwa machen, wenn hier eine solche symbolische Störung dann zu der Ausschlußentscheidung führen würde. Das kann ich hier erklären. Also ich glaube, es ist allen Prozeßbeteiligten würde es besser anstehen, wenn man nun nicht erst wartet, bis eine Verbalinjurie in Richtung des Senats geäußert wird. Was ich aber für äußerst bedenklich halte und auch für widersprüchlich. Wenn der Senat erst darauf wartet auf diese Verbalinjurie, auf die besonders nachhaltige Störung, und dann in der Ausschlußentscheidung sagt, ja weil jetzt besonders nachhaltig gestört worden ist, deshalb dehnen wir den Zeitraum der Ausschlußentscheidung aus. Es gibt ja so den Grundsatz im Zivilrecht des venire contra factum proprium[7]; ob man den nun im Strafprozeß anwenden kann, das lasse ich dahingestellt. Aber ich würde denken, der Senat sollte sich einmal darüber Gedanken machen, ob das nicht eigentlich einem, eine unmögliche Argumentation ist, wenn in dieser Form dann eine Entscheidung gegründet wird. Im übrigen ist es so: Eine Ausschlußentscheidung ist ja keine Strafe. Sondern sie soll wie gesagt, ich habe das erklärt, den ordnungsgemäßen Ablauf der Hauptverhandlung gewährleisten. Und insofern ist der Senatsbeschluß hat ein richtigen Ausgangspunkt, daß er sagt, es kommt auf die Prognose an, ob nun wieder Störungen auftreten und dazu kann man ja nur sagen, nach dem gestrigen, die gestrige Erklärung war doch eindeutig, daß man seitens der Mandanten eben, wie es auch der Kollege von Plottnitz hier berichtet hat, festgestellt hat, wir können der Verhandlung nicht weiter folgen. [2264] Sie wissen, unsere gestrige Auseinandersetzung ging um die Frage unter anderem, wie diese drei Stundendauer, die die Sachverständigen festgestellt haben, wie die zu bewerten ist.[8] Ob da die Pausen mit einbegriffen sind. Welche Art von Pausen da einbegriffen sind usw. Es war in der gestrigen Nachmittagssitzung, das darf ich vielleicht auch erinnern, um 15.30 Uhr, also zu einem relativ späten Zeitpunkt. Und das war der Anlaß. Und es ist ja nicht etwa gestern vormittag oder irgend zu einem Zeitpunkt eine solches Auftreten der Angeklagten festgestellt worden. Insofern ist eine solche Prognose für den heutigen Tag vollkommen unangebracht und wie gesagt, sie kann auf keinen Fall aus der besonders, wie die Formulierung eben heißt, aus der besonders nachhaltigen Störung gefolgert werden, diese Prognose. Weil, wie gesagt, das Gericht ja selbst gemeint hat, es kann eine Ausschlußentscheidung nur dann treffen, wenn diese besonders nachhaltige Störung vorliegt. Im übrigen, und das möchte ich noch einmal wiederholen, ich habe das gestern sozusagen als kleinen Beitrag auch für den Antrag des Kollegen Dr. Heldmann hier zu Protokoll gegeben. Ich bitte doch noch einmal zu überlegen, wir haben häufiger einmal Meinungsverschiedenheiten darüber gehabt, was den Fortgang des Verfahrens anbelangt. Wie das Verfahren ohne Stockungen, und ob der Senat nicht[d] eigentlich erkennen kann, daß die Maßnahme, die er trifft mit der Ausschlußentscheidung gerade für den heutigen Tag, eigentlich fast zwangsläufig zu Stockungen in der Verhandlung führen muß. Auch diese Überlegung sollte eigentlich Anlaß geben, diese Entscheidung zu überprüfen und dem Antrag der Verteidigung stattzugeben.
Vors.:
Die Bundesanwaltschaft bitte.
Ich darf nun folgendes sagen. Wer von Ihnen bekennt sich nun eigentlich gestern dazu die Gegenvorstellungen erhoben zu haben, gegen den Ausschluß.
Richter Dr. Foth:
Herr Heldmann und Herr Riedel hat ...
RA Sch[ily]:
Das kann man im Protokoll nachlesen.
Vors.:
Genau, genau.
RA Sch[ily]:
Und ich nehme an, daß Sie wissen, daß ich gestern einen Antrag [2265] nicht gestellt habe.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt Schily, bei Ihnen schon. Bloß jetzt kommt Herr Dr. Temming dazu und hier ist nun zu sagen, daß Herr Rechtsanwalt ...
Richter Dr. Foth:
Also Herr Rechtsanwalt Riedel, wenn ich das sagen darf.
Protokollführer:
Bitte Mikrofon einschalten.
Richter Dr. Foth:
Herr Rechtsanwalt Riedel hatte gestern gesagt, nachdem Herr Rechtsanwalt Heldmann die Gegenvorstellung vorgebracht hatte, er schließe sich der Gegenvorstellung an und bitte Frau Meinhof wieder zuzulassen. Die Störungen würden morgen nicht mehr andauern. Das weiß ich.
Vors.:
Also damit erledigt sich Ihr Beitrag.
BA Dr. W[under]:
Aus den Gründen des eben verlesenen Senatsbeschlusses bitte ich, den Antrag zurückzuweisen. Es ist gestern bereits dargelegt worden, wie lange echt verhandelt worden ist und wie lange verhandelt werden dürfte. Woraus sich ergibt, daß ein ernster Grund für die Angeklagten dafür, aufzustehen und gehen zu wollen, nicht gegeben sein konnte. Es kann nach der geltenden Prozeßordnung nicht ins Belieben der Angeklagten gestellt werden, wie lange sie an der Hauptverhandlung teilnehmen wollen.[9] Ob die Prozeßordnung in diesem Punkt ganz glücklich gefaßt ist, ist eine Frage, die wir hier nicht zu behandeln haben. Darüber kann sich jeder seine Gedanken machen. Sie ist jedenfalls heute geltendes Recht.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt Schily bitte.
RA Sch[ily]:
Herr Dr. Wunder, Sie gehen wieder leider nicht darauf ein, daß eben Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, mit dieser Frage der Dauer der Verhandlungsfähigkeit, weil das ja eine Rolle spielt. Sie gehen leider nicht darauf ein. Leider ist es auch Ihre Stellungnahme gewesen, die es unmöglich gemacht hat, das an Ort und Stelle schnell zu klären. Das hätte man ja durch eine [2266] Befragung von Herrn Professor Müller und Herrn Professor Schröder schnell klären können, ob Ihre Auffassung oder die Auffassung der Verteidigung zutrifft. Sie wollten mich unterbrechen? Nein.
BA Dr. W[under]:
Nicht unterbrechen, ich hätte gerne noch etwas angefügt. Aber vielleicht kann ich es an der Stelle gleich sagen. Herr Rechtsanwalt, wenn es in dem Punkt für die Bundesanwaltschaft gestern noch Zweifel gegeben hätte, nach dem Telefongespräch des Herrn Vorsitzenden mit einem der Sachverständigen, wie diese drei Stunden zu rechnen und zu zählen sind, dann hätten wir einen anderen Antrag gestellt. Gestern und heute. Aber für mich gibt es nach dem Telefongespräch und nachdem, was der Herr Vorsitzende dazu gesagt hat, keinen Zweifel mehr.[10]
RA Sch[ily]:
Herr Dr. Wunder, es ist also so, wenn Sie keinen Zweifel haben, der Senat hat keinen Zweifel, dann müssen wir uns damit beruhigen.
BA Dr. W[under]:
Nein, absolut nicht, Herr Rechtsanwalt. Das ist eine Frage, ob wir dem Vorsitzenden vertrauen, daß er an den Sachverständigen eine vernünftige Frage gestellt hat und die Antwort, die er bekommen hat, objektiv hier in das Verfahren reingebracht hat oder nicht. Ich zweifle nicht daran, weil ich keinen vernünftigen Grund dafür sehen könnte, daß uns der Herr Vorsitzende etwas anderes erzählt, als ihm geantwortet worden ist.
RA Sch[ily]:
Na, da sehe ich auch keinen vernünftigen Grund, daß etwa Herr Dr. Prinzing uns über den Anruf uns nicht richtig unterrichtet. Was er sagt und was der Herr Müller sagt. Nur wie das zu verstehen ist, das ist eben eine Frage, nicht. Und was auch gefragt wird, nicht. Ob nun z.B. also geschildert wird, was offenbar nicht geschehen ist, unter welchen Umständen diese Zellenpausen stattfinden usw. Das hätte eben geklärt werden müssen, bevor man über die Frage sich weiter unterhält, wie lange dauert oder reicht denn diese begrenzte Verhandlungsfähigkeit. Aber ich darf auf folgendes noch hinweisen. Ich bin selbstver- [2267] ständlich davon ausgegangen, daß unsere Mandanten heute vormittag, also heute morgen wieder, wie üblich, in das Prozeßgebäude geführt werden und ich hatte mich kurz vor 9 Uhr hier eingefunden, um noch eine kurze Rücksprache auch mit meiner Mandantin zu haben. Ich darf auch darauf aufmerksam machen, daß ich diese Möglichkeit auf diese Weise nicht hatte, was mich in der Verteidigung insofern behindert, als in der Antragsbegründung noch eine kleinere Abänderung stattfindet, die ich zwischen dem gestrigen und heutigen Verhandlungstag vollzogen habe und es wäre eigentlich notwendig gewesen und ist notwendig, daß ich diese Frage mit meiner Mandantin erörtere. Ich stelle also den Hilfsantrag, mir eine Pause von einer viertel Stunde einzuräumen, um diese Möglichkeit dann drüben im Stammheimer Gebäude wahrzunehmen. Falls das Gericht dabei bleiben sollte, meine Mandantin hier nicht zur Verhandlung zuzulassen.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt Schily, Entschuldigung Sie wollten erwidern, bitte. Ich würde jetzt sagen, der Reihe nach, denn ich habe an sich nur Herr Rechtsanwalt Schily dazu sagen wollen, wir werden über diesen Antrag, der gestellt ist, ohnedies beraten. Ich würde es also gar nicht auf den Hilfsantrag ankommen lassen sondern legen wir diese viertel Stunde Pause ein. Sie haben die Gelegenheit kurz drüben Rücksprache zu nehmen. Machen wir eine viertel Stunde nachher Beratungspause.
BA Dr. W[under]:
Eine ganz kurze Frage noch an Herrn Rechtsanwalt Schily.
Herr Rechtsanwalt, haben Sie die Möglichkeit, uns zu sagen, halbwegs verbindlich zu sagen, wann voraussichtlich heute wieder gestört werden wird, halbwegs verbindlich.
RA Sch[ily]:
Also ein Prophet bin ich bekanntlich nicht. Aber daß die Angeklagten selbst ein Interesse haben, an der Verhandlung teilzunehmen, auch gerade für den heutigen Verhandlungstag, das kann ich Ihnen erklären, das ist uns mitgeteilt worden. Und ich darf auch sagen, das ist also kein Geheimnis, daß die, daß meine Mandantin beabsichtigt, bzw. wird möglicherweise von der anderen Verteidigung auch noch ein Antrag in ähnlicher Richtung gestellt oder angeschlossen und daß vielleicht andere Angeklagte beabsichtigen, diesen Antrag, den ich gestern begonnen habe, zu be- [2268] gründen, auch ihrerseits, auch von ihrer Seite noch weiter zu begründen oder sich dazu zu äußern. Und das ist ja, was ich meine, was eigentlich so diese ganze Maßnahme etwas nicht nur meiner Meinung nach rechtlich unzulässig, sondern auch aus prozeßökonomischen Gründen so fragwürdig macht, daß ja eben eine Komplikation eintritt.
Vors.:
Es ist nur merkwürdig, Herr Rechtsanwalt, daß dann ausgerechnet in dem Moment gestört wurde, als Sie begonnen haben, diesen Antrag zu stellen. Dann wäre es doch richtig gewesen, wenn die Angeklagten wenigstens ihre eigenen Vorträge mit angehört hätten.
RA Sch[ily]:
Gerade weil die Mandanten an der Antragsbegründung mit voller Konzentration teilnehmen wollen, sie aufnehmen wollen und dann eben anknüpfen wollen an diese Antragsbegründung, deshalb legten sie Wert in einem Zustand hier in der Verhandlung zu sein, in der ihnen das möglich ist.
Vors.:
Keine zwei Stunden war verhandelt, Herr Rechtsanwalt.
RA Sch[ily]:
Ja, ich sage ja, wir kommen da nicht auf eine Deckungsgleichheit, weil wir uns nicht einigen können, wie diese drei Stunden zu bewerten sind. Und da wie gesagt, hätte man sich ja verständigen können, wenn der Herr Professor Schröder, ich verstehe es auch nach wie vor nicht, warum nicht Herr Professor Schröder und Herr Professor Müller hier mal zu einem kurzen Interview gebeten werden.
Vors.:
Weil hier klare Auskünfte vorliegen, die ich bekanntgegeben habe. Herr Rechtsanwalt von Plottnitz.
RA Sch[ily]:
Das ist Ihre falsche Auffassung.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt von Plottnitz.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ja, ich wollte nur mit einem Satz erwidern, auf das was Dr. Wunder gesagt hatte. Ich meine, Herr Dr. Wunder, nachdem, was Sie in Ihrer ersten Stellungnahme gesagt haben, sollen Sie sich dazu verstehen, sich unserem Antrag anzuschließen. Sie[e] haben ge- [2269] sagt, das Gesetz möge zur Frage der Abwesenheit und Anwesenheit eines Angeklagten unglücklich formuliert sein. Damit haben Sie selbst im Klartext gesagt, daß auch Sie, also die Bundesanwaltschaft, nicht davon ausgeht, daß im Falle der Fortsetzung der Verhandlung am heutigen Tag mit den Gefangenen von dieser Seite irgendwelche Störungen zu erwarten seien. Da dem so ist und da auch Sie nichts dem entgegenzusetzen hatten, was der Kollege Schily gesagt hat zur Frage, Ausschluß nie als Strafe, sondern stets nur zur Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäß durchzuführenden Hauptverhandlung, sollten Sie sich meiner Ansicht nach in der Logik dieser Argumentation dem Antrag anschließen.
BA Dr. W[under]:
Eine einzige Frage an die Herrn Verteidiger darüber. Wollen Sie heute, nachdem die Klimaanlage wieder geht, Nettozeit oder Bruttozeit zählen, das hätte ich gerne von Ihnen beantwortet.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Wir zählen weder Netto- noch Bruttozeit, weil wir ja die Frage der Verhandlungsfähigkeit stellt sich für uns nicht. Kollege Schily hat gesagt, wir sind gebeten worden, diesen Antrag, also ich bin von Herrn Raspe auch gebeten worden, diesen Antrag zu stellen, weil Herr Raspe beabsichtigt, sich anzuschließen dem Antrag, der für die Frau Ensslin gestellt worden ist. Er will da wohl auch ergänzend was dazu begründen. Sie ersehen daraus, Herr Raspe beabsichtigt nicht in irgendeiner Weise hier zu stören.
RA Sch[ily]:
Herr Dr. Wunder, darf ich auch ...
Vors.:
Augenblick, Augenblick, nochmals erwidern?
RA Sch[ily]:
Naja, weil die Frage gestellt worden ist.
Vors.:
Bitte.
RA Sch[ily]:
Die Frage gestellt worden ist, die Frage gestellt worden ist. Ich sage ganz eindeutig, daß ich auf dem Standpunkt nach wie vor stehe, wenn Sie diesen Ausdruck wählen, brutto oder netto, ja Bruttozeit, wobei man sich natürlich über die Art der Pausen noch, [2270] da kann man noch unterschiedlicher Auffassung sein. Ich würde z.B. die Mittagspausen an anderen Stellen zumessen, das ist ganz selbstverständlich. Die Mittagspause dient ja nun der Erholung, im großen und ganzen wenigstens. Aber eine Beratungspause beispielsweise. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, daß der Vorsitzende einmal gesagt hat, ja der Senat muß ja in den Pausen auch heftig arbeiten, muß sich da auch mächtig anstrengen. Und ist da also nicht etwa, liegt da auf der Liege und trinkt Kaffee oder was. Liegt insofern diese Zeiten, diese kurze Unterbrechungen, die also jetzt mit der Stoppuhr gemessen werden und in denen sich die Angeklagten unten in diesen fensterlosen Zellen befinden im Keller, die rechne ich in der Tat mit, weil die auch dazu dienen natürlich, der weiteren Verteidigung, weil also nun ständig aus der Verhandlung heraus ja auch dann die Angeklagten sich damit beschäftigen müssen, wie sie sich nun weiter verteidigen wollen und was nun als nächste Erklärung oder Antrag oder eben kein Antrag oder wie eine Gerichtsentscheidung zu bewerten ist. Das zählt alles dazu. Insofern brutto. Aber wie gesagt, Mittagspause, das kann man natürlich anders zählen. Genauso wie etwa nach Verhandlungszeit, das wären wir auch nicht, wenn also 16 Uhr die Verhandlung endet, dann kann natürlich eine solche Zeit die danach ist auch nicht einbegriffen werden.
Vors.:
Gut, ich glaube das ist eine erschöpfende Auskunft.
Herr Dr. Temming
Referendar[f] Dr. T[emming]:
Ich kann mich weder auf Brutto- noch auf Nettozeit einlassen, solange es der Verteidigung nicht möglich war, die Ärzte zu befragen. Ich weiß von Herrn Heldmann, daß er versucht hat, die Ärzte telefonisch zu befragen. Und einer der Gutachter hat ihm mitgeteilt, daß er sich nicht mehr äußern werde, mündlich, sondern nur noch das gelte, was schriftlich vorläge. Daraus schließe ich, daß der Senat mit seinem telefonischen Anruf möglicherweise oder ganz sicherer Weise auch die Einlassung der Gutachter insofern mißverstanden hat, so daß diese Frage brutto oder netto für mich zur Zeit überhaupt nicht zur Debatte steht.
Vors.:
Dann empfehle ich Ihnen, lesen Sie die schriftliche Antwort, [2271] die Herr Dr. Müller dem Senat ...
Referendar[g] Dr. T[emming]:
Die hab ich gelesen, Herr Prinzing, und daraus ergeht weder ein Hinweis auf brutto noch auf netto.
Vors.:
Herr Gerichtsreferendar. Ich darf Sie darauf hinweisen, Sie können aus dem Text schon das entnehmen, was mir dann der Herr Sachverständige zusätzlich gesagt hat. Wir werden jetzt die Beratungspause einlegen. Herr Rechtsanwalt Schily, ich würde Sie also bitten, die Gelegenheit zu benützen, diese Rücksprache zu halten.
RA Sch[ily]:
... das keine Vorwegnahme der Entscheidung des Senats ist, wenn Sie jetzt ...
Vors.:
Nein, ich sagte ja, lassen Sie es auf den Hilfsantrag nicht ankommen. Wir brauchen dann nicht auf alle Fälle, wenn jetzt etwa die Entscheidung nicht so ausginge, was nicht vorweggenommen ist, noch die Zeit zuzulegen. Das sagte ich aber schon vorhin. Das war wohl nicht mißzuverstehen.
Das Gericht zieht sich um 9.36 Uhr zur Beratung zurück.
Ende von Band 110
[2272] Nach Wiedereintritt des Senats um 10.09 Uhr wird wie folgt fortgesetzt.
RA Dr. Heldmann ist nunmehr auch[h] anwesend.
Vors.:
Wir setzen die Sitzung fort.
Der Senat hat beschlossen:
Bei dem Ausschluß der Angeklagten Raspe und Ensslin bleibt es.
Gründe:
Bei den Angeklagten Raspe und Ensslin gelten die Gründe des zuvor verkündeten Beschlusses. Richtig ist, daß die Angeklagten am 19.8.75 beide Male nachmittags gestört haben und demzufolge ausgeschlossen werden mußten. Jedoch haben die Angeklagten schon bisher häufig die Verhandlung zu den verschiedensten Tageszeiten gestört, ohne daß der Senat dies jedesmal zum Anlaß genommen hätte, sie auszuschließen. Der Senat befürchtet deshalb, daß die Angeklagten auch am heutigen Verhandlungstag zu nicht voraussehbarer Zeit nachhaltig stören würden.
Herr RA Schily, Sie haben das Wort zur Fortsetzung in Ihrer Begründung.
RA Sch[ily]:
Ich darf vielleicht folgendes zunächst erklären:
Sie hatten mir ja die Gelegenheit gegeben, die Beratungspause des Senats dazu zu benutzen, meine Mandantin zu einer Rücksprache aufzusuchen. Ich darf Ihnen berichten, daß mir die Haftanstalt den Zugang zur Haftanstalt verwehrt hat und eine Rücksprache mit meiner Mandantin verweigert hat, weil ich hier bei mir trage eine Packung eines Mittels Spartocine fer Enervetic. Ich darf Ihnen sagen, daß ich das von einem Bekannten vor einigen Tagen mal bekommen habe. Das ist so ein ... ist kein Medikament in dem Sinne, sondern soll ein Mittel sein bei Übermüdung. Ich will mich mal da drüber unterrichten, was das womöglich auch für einen Verteidiger eine nützliche Substanz sei, und es wurde mir gesagt, also entweder mit oder ohne; oder nur unter der Voraussetzung, daß ich dieses Päckchen hier, was ich sonst auch in den letzten [2273] Tagen hier bei mir geführt habe, selbstverständlich unbeanstandet hier auch die Kontrollen damit passiert habe, nun auf einmal Herr Götz von der Untersuchungshaftanstalt nach Rücksprache mit dem Anstaltsleiter mir zumutet, ich soll das hier abgeben. Bisher war ich der Meinung, daß diese Untersuchung, die ich ohnehin für rechtswidrig halte für[i] Verteidiger,[11] dazu dienen soll, auf Waffen und ähnliche, auf Ausbruchswerkzeuge und ähnliches Kontrollen durchzuführen. Wie gesagt, ich erkläre deshalb erneut oder wiederhole den Antrag:
zunächst für eine kurze Pause hier zu unterbrechen, mir die Gelegenheit zu geben, Frau Ensslin zu sprechen.
Falls also die Notwendigkeit besteht, daß es eben nur hier geht, also hier im Gebäude, weil ich ja dieses Ding hier bei mir habe, dann eben hier im Gebäude. Aber vielleicht wärs doch nützlicher, daß der Senat einmal die Haftanstalt darauf hinweist, daß solche Schikanen unterbleiben.
Vors.:
Die B. Anwaltschaft bitte.
Wollen Sie Stellung nehmen oder nicht?
BA Dr. Wu[nder]:
Wir geben keine Erklärung ab.
Vors.:
Gut. Wir werden jetzt zuerst mal über diesen Antrag entscheiden.
RA Sch[ily]:
Ich bitte zu entschuldigen, wenn ich die Beratung, die geheime Umfrage unterbreche. Ich bin gern bereit, Ihnen auch diese Warenprobe auf den Richtertisch zu legen, damit Sie sich überzeugen.
Vors. (nach geheimer Umfrage):
Nein, das ist nicht notwendig.
Der Senat hat beschlossen:
Der Antrag auf Pause wird abgelehnt.
[2274] Herr RA Schily hat gewußt, daß die Angeklagten für den heutigen Tag ausgeschlossen sind. Er mußte damit rechnen, mindestens damit rechnen, daß sie auch trotz gestellter Gegenanträge ausgeschlossen bleiben könnten. Es war Gelegenheit gegeben, wenn eine Besprechung mit der Mandantin notwendig war, sie vor Beginn der Sitzung in der Haftanstalt zu besuchen. Es war außerdem Gelegenheit gegeben, jetzt zu besuchen. Voraussetzung war die Abgabe dieses Päckchens, offenbar eines noch nicht in der Haftanstalt bekannten Medikaments ...
RA Sch[ily]:
Das ist kein Medikament.
Vors.:
... oder Stärkungsmittels. Der Verteidiger hätte jederzeit die Möglichkeit des Zutritts dadurch erlangt, daß er das wunschgemäß hinterlegt hätte. Die Maßnahme der Haftanstalt läßt sich dann außerhalb der Hauptverhandlung überprüfen.
Herr Dr. Temming.
Referendar Dr. Te[mming]:
Ich stelle den Antrag:
eine Pause zu gewähren, und zwar muß ich aufgrund dieses Beschlusses mit Frau Meinhof das Problem eines Befangenheitsantrags beratschlagen.
Meines Erachtens kann dieser Beschluß nur so gedeutet werden, daß das Gericht versucht, die Beschränkung der Verhandlungsdauer auf drei Stunden zu unterlaufen und deswegen die Angeklagten ausschließt, und um diese Frage zu klären, ob meine Mandantin Befangenheitsantrag stellt, benötige ich eine Pause.
Vors.:
Also ich lehne zunächst als Vorsitzender den Antrag, Ihnen eine Pause zu gewähren ab.
Referendar Dr. Te[mming]:
Dann bitte ich um Beschluß, beanstande ich Ihre Ablehnung.[12]
Der Vorsitzende verkündet nach geheimer Beratung den B e s c h l u s s :
Der Senat billigt die Entscheidung, da kein Anlaß ersichtlich ist, jetzt eine Pause einzulegen.
[2275] RA v[on] P[lottnitz]:
War der Herr Breucker in die Beratung miteinbezogen?
Vors.:
Ja.
RA v[on] P[lottnitz]:
Ich konnte das nicht feststellen.
Vors.:
Das macht nichts aus. Er war. Ich versicher’s Ihnen.
RA v[on] P[lottnitz]
Hat’s Augenkontakt gegeben?
Vors.:
Gut. Herr RA Schily, bitte, Sie haben die Möglichkeit, jetzt fortzusetzen.
RA Sch[ily]:
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, nur zu meiner Unterrichtung, also diese Frage ist damit für Sie nicht erledigt, sondern Sie werden das dann noch außerhalb der Hauptverhandlung mit der Verteidigung klären?
Vors.:
Sie können die Maßnahmen der Haftanstalt beanstanden, und dann ist das Gericht verpflichtet, die Sache zu prüfen.[13]
Das ist klar.
RA Sch[ily]:
Schön. Ich erkläre aber nach wie vor, daß ich in meiner Verteidigung behindert bin dadurch, daß man mir diese Möglichkeit einer Rücksprache nicht gewährt hat. Ich fahre dann in der Antragsbegründung des gestrigen Tages fort. Ich darf daran erinnern, daß ich den Antrag gestellt habe:
das Verfahren gemäß § 260[ StPO][14] in Verbindung mit Art. 6 der Menschenrechtskonvention[15] einzustellen, weil ein faires Verfahren nicht mehr gewährleistet ist.
[2276] Die Unterbrechung, die gestern eingetreten ist, fand an der Stelle statt, als ich darüber berichtet habe, daß Gegenstand der Berichterstattung u. a. auch die sog. Stuttgarter Bombendrohung[16] war, die fälschlicherweise der Roten Armee Fraktion zugeschrieben wurde, und daß während dieser ganzen Aktionen, die dann eingeleitet wurden aufgrund dieser Bombendrohung verschwiegen wurde, daß ein vom B. Kriminalamt als authentisch erkanntes Schriftstück bereits vorlag, in dem sich die Rote Armee Fraktion ausdrücklich von dieser Bombendrohung distanziert und erklärt hatte, daß diese Bombendrohung nicht von ihr ausgehe. Gleichwohl wurde nach wie vor diese Bombendrohung der Roten Armee Fraktion zugeschrieben, und noch in einem Vorbericht der „Stuttgarter Zeitung“ wurde wiederum diese Bombendrohung erwähnt und auch ihre tiefgehenden psychologischen Wirkungen auf die Stuttgarter Bevölkerung. Das ist gekennzeichnet worden, als Bestandteil einer psychologischen Vorbereitung dieses Verfahrens, als Bestandteil einer psychologischen Kriegführung. Und weitere Beispiele dafür sind etwa die angebliche Drohung der Roten Armee Fraktion, das Trinkwasser zu vergiften[17] - solche Meldungen sind verbreitet worden -; die angebliche Drohung der Roten Armee Fraktion, während der Fußballweltmeisterschaft die Fußballplätze mit Raketen anzugreifen[18] - solche Meldungen wurden in großer Aufmachung verbreitet -; es wurde die Behauptung verbreitet, die Rote Armee Fraktion habe im Bremer Hauptbahnhof eine Bombe zur Explosion gebracht,[19] und es wurde dann später, als ein Dementi auch da verbreitet wurde wiederum, das Verbreiten dieses Dementis dann als kriminelle Handlung gewertet. Es wurde die Meldung verbreitet, daß Stuttgart mit sowjetischen Raketen vom Typ SAM angegriffen werden sollte, und nur später kam dann ein Dementi in kleiner Aufmachung seitens des Stuttgarter Innenministeriums, verbreitet am 13.5.75 u.a. in den „Stuttgarter Nachrichten“. Es wurden dann kurz vor Prozeßbeginn Meldungen veröffentlicht, die Rote Armee Fraktion habe aus den Beständen der B. Wehr Giftgas an sich gebracht[20] und plane Anschläge, durch die die Bevölkerung in hohem Maße gefährdet werde. Diese Berichte wurden in großer Aufmachung in sehr vielen Zeitungen verbreitet. Ein Beispiel ist hier „Die Welt“ vom 16. Mai 1975 auf S. 1:
„Alarm im B. Tag. Terroristen planen Giftanschlag.“
Und da steht als erster Satz:
„Das B. Kriminalamt hat am Donnerstag die Präsidentin des Deutschen B. Tages davon unterrichtet, daß Angehörige der Baader-Meinhof-Bande einen[j] Giftanschlag auf das deutsche Parlament planen. [2277] Größere Mengen Giftgas, die vor einigen Wochen aus einem Depot der B. Wehr abhanden gekommen waren, sind nach Angaben des B. Kriminalamts in die Hände von Mitgliedern der Baader-Meinhof-Bande gefallen.“
Und dann steht hier was über pausenlose Beratungen über Sicherheitsvorkehrungen u. ä., und dann wird geschrieben:
„Gesundheitsämter und Krankenhäuser sind auf den Fall eines Kampfstoffanschlags von Terroristen vorbereitet. Bereits am 6. Mai wurden sie angewiesen, wie sie sich bei etwaigen Giftgasanschlägen zu verhalten haben.“
Und dieser ganze Vorgang, wenn Sie das dann später mal in den Zeitungen weiterverfolgen - auf den Innenseiten allerdings -, dann wird das immer kleiner und immer kleiner. Dann hieß es: Naja, also es ist eigentlich gar nicht geklärt, ob das also Terroristen, Anarchisten waren; es könnte auch vorgetäuscht gewesen sein; es könnten auch ganz normale Diebe gewesen sein. Und zum Schluß konnte man nicht mal mehr feststellen, ob überhaupt was geklaut war, ob überhaupt was da verschwunden war, und irgendwo habe ich jetzt eine ganz kleine Meldung gesehen, daß die Ermittlungen eingestellt worden sind.
Aber sechs Tage vor Prozeßbeginn werden da solche Meldungen in Großaufmachung herausgebracht, und wenn man mal weiß, was das für ein psychologisches Element enthält, Giftgasanschläge, dann weiß man Bescheid über den Charakter einer solchen psychologischen Kriegsführung, wie das richtigerweise genannt wird. An dieser psychologischen Kriegsführung in den Massenmedien haben sich Politiker aller Schattierungen beteiligt. Auch die Träger höchster Staatsämter haben jegliche Zurückhaltung aufgegeben und haben sich - man sollte es eigentlich nicht für möglich halten - mit B. Kanzler Schmidt an der Spitze die Verurteilung der Angeklagten, bevor der erste Zeuge oder erste Sachverständige gehört worden ist, öffentlich verkündet. B. Kanzler Schmidt bezeichnete in einer vor dem B. Tag am 25. April 1975, also einen knappen Monat vor Prozeßbeginn, abgegebenen Regierungserklärung die Angeklagten als Verbrecher - ich zitiere wörtlich - „Verbrecher, Gewaltverbrecher, skrupellose Gewalttäter und Banditen.“ Das ist das Vokabular, was der höchste Träger der Exekutive gegenüber den Angeklagten angewandt hat: Verbrecher, Gewaltverbrecher, skrupellose Gewalttäter und Banditen. Wörtlich heißt es in der Regierungserklärung - ich zitiere:
„Eine Freilassung dieser Verbrecher, die zum Teil ihren Prozeß noch erwarten, hätte eine unvorstellbare Zerreißprobe für unser aller Sicherheit und für den Staat bedeutet.“
Ende des Zitats.
[2278] - Staatsanwalt Holland verläßt um 10.24 Uhr den Sitzungssaal.-
Das muß man sich einmal vorstellen, daß vor Prozeßbeginn im B. Tag vor allen Kameras eine über das gesamte Staatsgebiet verbreitete Regierungserklärung, in der es heißt:
„Eine Freilassung dieser Verbrecher, die ihren Prozeß noch erwarten, würde eine höchste Zerreißprobe für diesen Staat bedeuten.“
Also ein Freispruch beispielsweise ist ja mit der Freilassung verbunden bekanntlich. Man kann also den Satz so lesen:
Ein Freispruch dieser Verbrecher, die zum Teil ihren Prozeß noch erwarten, hätte eine unvorstellbare Zerreißprobe für unser aller Sicherheit und für den Staat bedeutet.
Und die Opposition wollte selbstverständlich da nicht zurückstehen, und Herr Carstens hat sich dann in folgender Form geäußert:
„Wäre man der Forderung nachgekommen, so hätte man praktisch den gesamten harten Kern der Baader-Meinhof-Bande freilassen müssen, darunter Verbrecher, denen mehrfacher Mord angelastet wird. Die Folge wäre eine allgemeine schwere Erschütterung des Vertrauens in unseren Rechtsstaat gewesen. Wer in dieser Lage und angesichts der erneuten Serie von Verbrechen den Angehörigen der Bande weiterhin offene Sympathie entgegenbringt, wer ihnen Hilfe oder Unterschlupf oder andere Unterstützung gewährt, macht sich mitschuldig an den gefährlichsten Verbrechen, die zur Zeit in unserem Lande begangen werden.“
Die Vokabel „Verbrecher“. Herr Carstens würde die Angeklagten, wenn er hier im Saal wäre und sie anreden müßte, als Verbrecher anreden.
Und Herr Schwarz, Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz, in einem Aufsatz vom Dezember 1974 - wiederum, ich erwähnte das, diese Explosion am Bremer Hauptbahnhof hat auch sein Urteil fertig. Bei dem Bombenattentat - ich zitiere:
„Bei dem Bombenattentat im Bremer Hauptbahnhof lassen sich die Spuren der Täter eindeutig bis in die Kreise der Nachfolgeorganisation der Baader-Meinhof-Bande verfolgen.“
Also wiederum etwas, was in den Kreis der Baader-Meinhof-Bande hineinpraktiziert wird.
- Staatsanwalt Holland erscheint wieder um 10.26 Uhr.-
[2279] Oder eine andere Stimme. Generalstaatsanwalt Weinmann beim OLG Stuttgart im April 1974 in der vom Stuttgarter Innenministerium herausgegebenen Polizeizeitung von Baden-Württemberg:
„Es kann kein vernünftiger Zweifel bestehen, daß wir es hier nicht mit einem politischen Prozeß zu tun haben, sondern daß es um rein kriminelle Handlungen geht.“
Ende des Zitats.
B. Innenminister Maihofer vor dem B. Tag am 13.11.74 - ich zitiere:
„Kriminelle Vereinigung Baader-Meinhof“
Oder eine andere Bezeichnung, die er wählt:
„Terroristenorganisation.“
Selbstverständlich Herr B. Justizminister Vogel, ebenfalls in der gleichen B. Tagssitzung, wählt auch die Bezeichnung „kriminelle Baader-Meinhof-Vereinigung”, und Herr Vogel, der ohnehin sehr aktiv in Richtung dieses Prozesses ist - darauf wird noch zurückzukommen sein - hat wiederum einen knappen Monat vor Prozeßbeginn eine, ein Pressegespräch oder Pressekonferenz, was es wohl war, veranstaltet, und darüber wurde dann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ berichtet, und da heißt es dann im Untertitel:
„Justizminister Vogel berichtet über Opfer der Baader-Meinhof-Bande.
Vogel
- so heißt es dann in dem Bericht -
gab einen Überblick über die Opfer der Baader-Meinhof-Bande.“
Also Herr Vogel stellt das alles schon als feststehende Tatsache hin, und er berichtet als Ressortminister über die Opfer der „Baader-Meinhof-Bande“.
Und da sind wir wiederum bei einem ... bei einer Vokabel, auf die große Anstrengungen verwendet wurde von zahlreichen Politikern in der Form, daß in den Medien die Bezeichnung „Baader-Meinhof-Bande“ durchgesetzt werden sollte, und man kann daran denken, man könnte daran denken, daß manche dieser Politiker bei einem Propagandaminister in die Schule gegangen sein könnten, nämlich Herrn Göbbels, der im Jahre 1942 an die deutsche Presse die Weisung ausgab, den Ausdruck Partisan künftig nicht mehr zu verwenden.[21] Um eine Glorifizierung der Partisanen zu vermeiden, sei von Banden oder Heckenschützen zu sprechen. Sie können das nachlesen in den geheimen Göbbelskonferenzen von 1939 - 1943, herausgegeben von Willi Bölke, erschienen in Stuttgart 1967.
Und auch das Wort Terroristen, was ja heute so ein Wort ist, was auch ein ... ein gängiges geworden ist, das ist auch keine Neuerfindung, sondern kommt aus dem Fundus, [2280] der da ausgewertet worden sein könnte. Z. B. wurde eine Gruppe, die einen Sabotageakt gegen eine Antisowjetausstellung verübt hatte - es handelte sich um insgesamt 12 Personen, davon 7 Juden und 5 Arier, so heißt es in dem Bericht; die Juden sind ohne den Judenstern in die Ausstellung gegangen und haben dort zusammen mit 5 Ariern die Phosphorbrandsätze gelegt - und diese Gruppe wurde genannt „Terrorgruppe“.
Und vielleicht darf man anmerken im Zusammenhang mit diesem Anschlag auf die Antisowjetausstellung. Im Berliner Lustgarten wurden dann am 28. Mai 1942 in Lichterfelde 258 Juden erschossen. „Terrorgruppe“ hieß das.
Und auch in anderen Zusammenhängen kam dieses Wort „Terroristen“ vor. Ich darf mal hier einen Bericht verlesen:
„Ich habe in meinen Befehlen für die [k] Bekämpfung der Terroristen darauf hingewiesen, daß dieser Kampf mit aller Schärfe zu führen ist. Zu meiner Freude habe ich an zahlreichen Stellen ein energisches Durchgreifen gegen die Terroristen feststellen können. Der Erfolg ist dabei nicht ausgeblieben. Es ist klar, daß für die Truppe die Unterscheidung der Terroristen von dem friedlichen Bürger, der vielfach sogar mit uns sympathisiert, schwierig ist. Daß dabei auch mitunter ein Unschuldiger dem von den Terroristen angezettelten Kampfe zum Opfer fällt, wird sich nicht vermeiden lassen.“
Das ist ein Bericht des Generalobersten v[on] Blaskowitz in einem Befehl vom 17. Juni 1944, der berichtet über den Kampf gegen den französischen Widerstandsorganisation. Auch dort die Wahl des Ausdrucks „Terroristen“.
Und wiederum eine Äußerung - ich fahre fort in den Zitaten von Politikern, die diese massiven Vorverurteilungen enthalten - Bundeskanzler Schmidt in der Sitzung des B. Tages vom 13.3.75 - ich zitiere:
„Sie
- damit sind also die Gewaltverbrecher, der harte Kern der Baader-Meinhof-Bande u. ä. wohl gemeint -
Sie stellen sich damit als Gewaltkriminelle selbst außerhalb der Spielregeln, die unser demokratischer Rechtsstaat setzt.“
Also wenn man das hört, dann ist ja vielleicht manches an Verwunderung, daß also die rechtsstaatlichen Regeln nicht eingehalten werden, gar nicht mehr angebracht. Es ist ja hier ganz klar ausgesagt:
„Sie stellen sich damit [l] als Gewaltkriminelle selbst außerhalb der Spielregeln, die unser demokratischer Rechtsstaat setzt; und wer an der Stelle von Kritik und von politischer Agitation nunmehr Drohung setzt und Gewalt setzt, der hat die Grenze überschritten, die politisches Handeln von Kriminalität scheidet. [2281] Dies muß auch denjenigen gesagt werden, die es ja auch gibt, die immer noch glauben, daß die Terroristen eigentlich einen politischen Anspruch erheben könnten, daß sie nur leider die falschen Mittel wählten. Es muß Schluß sein mit solcher Art von versteckter Sympathie. Wer da liebäugelt, macht sich mitschuldig.“
Und Herr Strauß wiederum will natürlich gleichziehen und erklärt in der Sonthofener Rede, in der berüchtigten Sonthofener Rede im November 1974[22] - ich zitiere:
„... möchte ich wissen, wie viele Sympathisanten der Baader-Meinhof-Verbrecher
- wiederum die Vokabel „Baader-Meinhof-Verbrecher“; nun allerdings eine wollte -
in der SPD- und FDP-Fraktion drinsitzen. Es ist ein ganzer Haufen. Und zwischen Kriminellen und politischen Gangstern ist nicht der geringste Unterschied. Sie sind alle miteinander Verbrecher.“
Und Helmut Kohl - also das ist das Ende des Zitats von Strauß - und Helmut Kohl, Vorsitzender der CDU, in der B. Tagssitzung vom 13.3.75:
„Der Feind der Terroristen sind die deutsche Demokratie und alle Parteien in diesem Hause.“
Das muß man sich auch klar machen - Ende des Zitats -. Das muß man sich auch klarmachen, was das heißt:
Die Angeklagten sind Verbrecher, Terroristen und sie sind der Feind der deutschen Demokratie und aller im B. Tag vertretenen Parteien. Sie sind der Feind.
Oder Ministerpräsident Kühn im ZDF, „Hearing“ hieß das wohl, schon im Jahre 1972:
„Für mich hat Baader-Meinhof begonnen, als Baader-Meinhof-Gruppe. In dem Augenblick, wo sie zu kriminellen Handlungen überging,
- als feststehende Tatsache natürlich von Herrn Kühn dargestellt -
ist sie zu einer Baader-Meinhof-Bande geworden, und gegen sie müssen alle Mittel des Staats mobilisiert werden.“
Und wiederum - Ende des Zitats von Herrn Kühn - und wiederum Herr Kohl auch schon im Jahre, also Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Herr Kohl im „ZDF-Hearing“ im Juni 1972, hat folgende Vokabeln zur Hand:
„Anarchisten, brutale Terroristen
- und weil nun die Vokabel Verbrecher nun überhaupt nicht mehr ausreicht, da doppeltgenäht hält besser, sagt er -
kriminelle Verbrecher, kriminelle Verbrecher. Es ist die Entwicklung
- so sagte Herr Kohl -
einer Gruppe, die einmal mit einem intellektuellen Anspruch angetreten ist und in der brutalen Barbarei geendet[m] [2282] hat, wenn auch jetzt noch so viele vordergründige Motive hier angegeben werden. Wer das Leben Unschuldiger, wer Hab und Gut seiner Mitbürger in einer solchen Weise angeht, der ist ein gemeiner Verbrecher.“
Ende des Zitats.
Und nun müssen Sie mal immer die Obertöne mithören, immer noch hören, was war da vorher in den Medien:
Giftgasanschlag, Trinkwasservergiftung, Fußballweltmeisterschaft, Raketendrohung auf ganze Städte. Das sind ja immer die Obertöne, die da noch mitschwingen.
Oder Herr Schreiber, der nun Polizeipräsident in München. Der spricht vom Krieg führen gegen anarchistische Gewalttäter.
Oder Herr Carstens im November 1974 in einem Interview mit einem Boulevardblatt, ist zitiert hier nach dem SPD-Pressedienst vom 28. November 1974 - ich zitiere -
Also dem reicht es nicht, dem Herrn Carstens, daß jetzt schon die Vorverurteilung da ist, sondern der gibt auch schon die Beweisvorschriften an die Hand - ich zitiere:
„Vor allem fehlt eine Verschärfung der Bestimmungen
- also 28. November 74 -
Vor allem fehlt eine Verschärfung der Bestimmungen gegen Bandenkriminalität. Alle Mitglieder einer Bande, die gemeinsam ein Verbrechen, z. B. Mord, begehen, müssen zur Verantwortung gezogen werden, und nicht nur, und nicht nur derjenige, dem der Mord nachgewiesen werden kann.“
Ende von Band 111
[2283] Also Herr Carstens meint, also wir müssen darauf verzichten mit Nachweis und solchen Altertümern, Rechtsaltertümern, Beweisvorschriften, das brauchen wir gar nicht. Wir brauchen nur die Deklaration, die Fiktion, das muß man mal hören. Sie müssen zur Verantwortung gezogen werden und nicht nur derjenige, dem der Mord nachgewiesen werden kann, das sagt Herr Carstens. Ich glaub, der ist sogar gelernter Jurist, wenn ich richtig, erstaunlich. Und Herr Genscher, er war ja früher Bundesinnenminister. Er[n] wurde von Herrn Löwenthal im ZDF-Magazin interviewt. Da sagte Herr Löwenthal, der ja auch immer den richtigen Begriff für sich hat, für sich nicht! Er stellte also folgende Frage. Erzwingen linke Psychopathen in unserer Republik den Notstand. Notstand kommt übrigens später noch einmal vor, darf ich daran erinnern. Und die Antwort von Genscher ist so, er sagt, es ist ohne Zweifel so, daß in dieser Phase der Entwicklung in unserem Lande sich die Geister scheiden müssen, daß hier nichts mehr entschuldbar ist, daß hier nichts mehr entschuldbar ist.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt, verzeihen Sie, ich darf die Gelegenheit benutzen Sie zu versichern, daß das Gericht imstande ist, solche Zitate aufs erste Mal zu verstehen, weil Sie sie gelegentlich wiederholen mit Nachdruck. Der Senat benötigt also dieser Hinweise nicht.
RA Sch[ily]:
Wissen Sie, wie ich meine Ausführung aufbaue, ob ich es für zweckmäßig halte, ein Zitat zu wiederholen, damit es Ihnen auch richtig zur Kenntnis gelangt, das überlassen Sie freundlicher Weise mir.
Vors.:
Ich werde es Ihnen überlassen müssen, aber ich wollte es Ihnen erleichtern und Sie versichern, daß der Senat und die übrigen Prozeßbeteiligten es versteht.
RA Sch[ily]:
Wissen Sie, ich habe nicht den Eindruck, daß Sie mir irgend etwas hier erleichtern wollen in dem bisherigen Verfahren, also da bedarf es keiner Erklärung von Ihnen, Herr Vorsitzender.
Vors.:
Es würde sonst der Verdacht entstehen, daß das irgendeinem anderen gelten soll, als dem Gericht. Denn das Gericht versteht es eben beim ersten Mal. Wir hören Ihnen gespannt zu.
RA Sch[ily]:
Das ist erfreulich, daß Sie mir gespannt zuhören und ich erinnere mich an Ihre gestrige Bemerkung, wo Sie gesagt haben, [2284] also lassen Sie mich doch erst mal was dazu erklären, sonst verlier ich den Zusammenhang. Insofern meine ich, ist es vielleicht gerade auf Ihre Person gerichtet nützlich, daß ich manches ein bißchen unterstreiche. Aber wie gesagt, ich lasse mir da in meiner Methode, wie ich etwas vortrage, nicht hineinreden. Das nehmen Sie bitte zur Kenntnis. Und wenn Sie’s stört, daß es in der Form vorgetragen wird, dann ist das wiederum auch nur ein Hinweis darauf, wie Sie manches auffassen, was Sie z.B. vielleicht hören wollen, oder nicht hören wollen.
Und auch ein früherer Bundeskanzler, Herr Willi Brandt, hat eine Erklärung abgegeben. Also jetzt um den Zusammenhang nicht zu verlieren. Also Herr Genscher hat nur gesagt, Entschuldigungsgründe, das gibt es auch nicht mehr. Herr Carstens hat die Sache abgehackt mit den Beweisregeln, die brauchen wir nicht. Entschuldigungsgründe gibt es auch nicht, sagt Herr Genscher. Und nun, weil ja mitunter mit dieser Motivgeschichte - darauf komme ich auch noch einmal zurück - bei dieser Unterscheidung, politisch oder nicht politisch, ja man gerne dann diese Vokabel: Politisch motivierte Täter, jetzt so neuerdings gebraucht, jetzt hier Herr Brandt für die Frage der Motive, es handelt sich bei den Tätern um eine kleine Gruppe von kriminellen Anarchisten, die Terror um des Terrors willen betreiben. Ihre Gewalttaten dienen keinem einsehbaren politischen Zweck und können durch nichts gerechtfertigt werden. Jede Idealisierung der Täter und ihrer Taten ist fehl am Platze. Jede Solidarisierung bedeutet eine Beihilfe zu schweren verbrecherischen Handlungen. Terror um des Terrors willen. Also die pure Gewaltausübung, um der Gewalt willen. Das ist die Auffassung, die hier vorprogrammiert wird von dieser Seite. Oder hat Carstens wiederum als Erklärung in einem Interview der Berliner Morgenpost vom 23.11.74, ein knappes halbes Jahr vor Prozeßbeginn in Richtung auf die Angeklagten große Schlagzeilen auf der ersten Seite: „Mörder müssen Mörder genannt werden.“ Oder Franz Josef Strauß laut einem Bericht im Bonner Generalanzeiger vom 5.12.1974: „Die Baader-Meinhof-Bande hat dem Rechtsstaat den Krieg erklärt.“ Dem Rechtsstaat den Krieg erklärt, und Herr Kiesel, Staatssekretär im Bayerischen Innenministerium laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. März 1975: „Wir sind der Meinung, daß der Krieg erst begonnen hat“. Also das die Feinderklärung, die hier wiederkehrt. Die Zitate, die ich hier Ihnen mitgeteilt habe, sind nur ein kleiner Ausschnitt aus zahllosen Äußerungen von Angehörigen des Staatsapparates. Nach solcher umfassenden psychologischen Vorbereitung dieser Verhandlung auf ein faires Verfahren zu hoffen, wäre der blanke Zynismus. Die Erklärungen des Bundeskanzlers, der Minister, Polizeipräsidenten und Staatsanwälte und Politiker müssen ja nicht nur in ihrer Auswirkung auf das Gericht berücksichtigt werden, sondern auch in ihrer Auswirkung auf die Zeugen und Sachverständigen, die mit aller suggestiven Macht, die den Massenmedien zu Gebote steht, in eine feindselige Haltung gegenüber den Angeklagten hineingetrieben werden. Und wenn das die Träger der Staatsautorität in dieser ausdrücklichen Form erklären, dann [2285] kann sich doch jeder an den fünf Fingern abzählen, was für eine Wirkung das beispielsweise auf einen biederen Beamten, der vielleicht hier als Zeuge erscheinen muß, haben ... zwangsläufig haben muß. Der fühlt sich doch hier auch als Kämpfer für den Rechtsstaat gegen die Angeklagten, und seine Aussage, sein Gutachten als Teil dieses Kampfes. Das ist nur noch eine Kampfsituation. Und daß in einer solchen Kampfsituation ein fairer Prozeß, wie ihn sich die Rechtsordnung, wie ihn die Rechtsordnung garantiert oder garantieren sollte, nicht möglich ist, das ist eine Selbstverständlichkeit. Und lassen Sie mich noch einmal anknüpfen an Verlautbarungen in der Presse, um einfach die Akzente, die da gesetzt werden und auch psychologisch so gesetzt werden, daß sie eine, diese Tiefenwirkung haben. Der Bayernkurier mag eine Verbreitung haben, die so mancher meint, daß sie nur auf Bayern beschränkt sei. Aber ich habe z.B. festgestellt, durch ein gestriger Versuch eines Einkaufs hier in Stuttgart am Hauptbahnhof, bei dem man so denkt, man hat also alle Zeitungen zur Verfügung, daß beispielsweise da der Bayernkurier durchaus zu haben ist, aber so als Gegensatz der „Vorwärts“, den gibt es da natürlich nirgendswo, oder die Deutsche Nationalzeitung. Also der Bayernkurier hat eine weit über Bayern hinausgehende Verbreitung. Und was schreibt der Bayernkurier, der ja so das Stammblatt von Herrn Strauß ist, über diesen Prozeßbeginn. Auf der ersten Seite: „Der Prozeß, Stuttgart-Stammheim, 21. Mai 1975. Der 21. Mai 1975 markiert ein entscheidendes Datum deutscher Nachkriegsgeschichte. Es ist der Tag des Prozeßbeginns gegen die Baader-Meinhof-Bande oder Gruppe, wie jene gerne noch immer zu sagen belieben, die es offenkundig besonders gut mit denen meinen, die vor Gericht stehen. Die für ihn getroffenen Vorkehrungen sind ohne Vergleich, und die Taten die zur Aburteilung anstehen, übrigens auch, die Taten, die zur Aburteilung anstehen übrigens auch. Es hat verbrecherische Systeme zu allen Zeiten gegeben. Theologisch motivierte Morde. Die Ausrottung von Millionen. Wer wüßte besser als das deutsche Volk, was dies auf dem Schuldkonto der Geschichte bedeutet. Doch damals ahnten die Massen der Ehrlichen und Anständigen nicht, was in ihrem Namen geschah. In Stuttgart-Stammheim dagegen werden Menschen zur Rechenschaft gezogen, deren Treiben den Massen nicht unbekannt ist, sie im Gegenteil in Furcht und Schrecken versetzt, sie mit dem Phänomen eines sinnlosen Todes und Hingemordetwerdens nahezu täglich und im wachsenden Maße in den letzten Jahren konfrontiert.“ Wer sich ein Gefühl für solche Assoziation, solche Verbindungen solche Gegenüberstellungen bewahrt, der kann das genau erkennen, was gesagt wird. Da wird gesagt, diese NS-Geschichten, das ist alles sehr bedauerlich, das ist alles sehr bedauerlich. Aber die Massen der Ehrlichen und Anständigen, die haben ja davon nichts gewußt, höchstens mal inoffiziell, höchstens mal inoffiziell, nicht offiziell, wie Herr Vialon[23] oder Herr Globke[24], inoffiziell, und das ist alles nicht so schlimm. Aber das, was hier ist, ist ja unvergleichlich schlimmer. Das ist ja hier ein Jahrhundertprozeß, in dem es um die schlimmsten Verbrechen der Weltgeschichte geht. Das ist der Extrakt und das ist der Eindruck, der herbeigeführt werden soll. Und man soll es auch nicht unterschätzen, manche unterschätzen das, wenn während der Woche, in der dieser Prozeß begann, an allen - in Berlin ist es mir besonders aufgefallen, weil da die Zeitungskioske alle damit dekoriert waren von außen, vielleicht war es in Stuttgart ganz ähnlich - ich hab das nicht so verfolgt - wenn da an den Zeitungskiosken diese Schlagzeile er- [2286] schien, diese Schlagzeile erschien. Was steht darauf?
-Rechtsanwalt Schily hebt die Zeitung (Deutsche Nat. Z.)[o] mit der Schlagzeile: „An den Galgen mit den roten Mordbanditen, keine Gnade für Baader-Meinhof“, in Richtung des Senats.
Diese Faschistenzeitung, die darf sich das hier erlauben, ohne daß irgend jemand dagegen einschreitet. Da hat es keinen einzigen Polizisten gegeben, der diese Zeitung, dieses schmierige Drecksblatt von den Kiosken entfernt hat. Aber Herr Breucker, das ist eine Beleidigung, eine Verbalinjurie, das stimmt, das stimmt, vielleicht ist es auch für eine solche Zeitung auch gar nicht angebracht, überhaupt sich in der Form mit dieser Zeitung auseinander zu setzen, vielleicht mögen Sie da recht haben. Aber Sie sollten sich nicht darüber aufregen. Diese Zeitung wird nicht entfernt, aber zur gleichen Zeit oder in einem gleichen zeitlichen Zusammenhang schickt ein Innenminister eines Bundeslandes eine Kompanie Polizeibeamten los, um den Namen von Karl von Ossietzki von einem Universitätsgebäude zu entfernen.[25] Das muß man sich mal bewußt machen was das heißt, was heißt das. Daß sowas möglich ist, daß hier eine solche Zeitung an allen Kiosken hängt und daß der Name eines Widerstandskämpfers, nach dem eine Deutsche Universität, ich kann nur sagen, ich habe Respekt vor den Leuten, die das gemacht haben. Der wird davon entfernt. Wenn man noch irgendwas hier in seinem Kopf und vielleicht auch im Herzen, - hier ist mal das Herz gefallen -, wenn man da noch was hat, wenn man noch weiß, was in den Jahren des dritten Reiches und ich weiß es, ich weiß es, was das heißt, gesellschaftlich. Die Kampagne in den Massenmedien, die massive Einflußnahme der Bundesregierung und anderer Staatsorgane auf das vorliegende Verfahren, die von den Sprechern der Bundesregierung öffentlich verkündete Vorausverurteilung schließen ein faires Verfahren innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland aus, da die elementaren Mindestbedingungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gemäß Artikel 6 der Menschenrechtskonvention nicht mehr hergestellt werden können, muß das Verfahren notwendigerweise eingestellt werden. Und Sie Herr Vorsitzender, Sie haben ja hier einmal einen Ausflug in das amerikanische Recht unternommen und vielleicht ist es insofern auch nützlich, Ihnen einen ähnlichen Ausflug vorzuschlagen, weil er zu der Rechtsmeinung, die Sie sich zu bilden haben, einen, wie ich glaube, nützlichen Beitrag leisten könnte. Das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika kennt das Rechtsinstitut der sogenannten pretrial Publicity. Nach diesem Rechtsinstitut hat der Angeklagte das Recht, die Verlegung des Prozesses vor ein anderes Gericht zu verlangen, wenn in dem Bezirk, in dem die Anklage erhoben wurde, ein faires und unparteiisches Verfahren nicht durchgeführt werden kann. Insbesondere dann, wenn durch Zeitungsbericht die öffentliche Meinung bereits vor Prozeßbeginn zu Ungunsten des Angeklagten vorgeformt worden ist. Um das einmal zu illustrieren. Sie haben ja vielleicht gelesen diesen Bericht über den Fall John Little[26], das war dieser[p] Gefangene, farbige Gefangene, Untersuchungsgefangene oder Strafgefangene, das weiß ich jetzt nicht, die in einen Mordprozeß verwickelt war, und da ist dieses Institut pretrial Publicity auch angewandt worden und man hat eine Verlegung des Gerichtsorts angeordnet auf Antrag [2287] der Verteidigung. Inzwischen ist ja John Little freigesprochen, wie Sie wissen. Hier hat es, in unserem Verfahren hat es die Besonderheit, daß die Vorformung der öffentlichen Meinung das gesamte Bundesgebiet umfaßt. Es gibt also quasi keine Oase mehr in der Bundesrepublik, in der etwa noch ein faires Verfahren möglich wäre und da diese Vorformung der öffentlichen Meinung das gesamte Bundesgebiet umfaßt, ist ein faires Verfahren vor keinem Gericht der Bundesrepublik mehr möglich. Die Voraussetzung für ein faires Verfahren sind im übrigen auch deshalb nicht mehr vorhanden, weil die Bundesregierung Teile der Prozeßakten unter Verstoß gegen Strafbestimmungen in einer sogenannten Dokumentation im Dezember 1974 veröffentlicht hat. Bundesinnenminister Maihofer hat hierzu in der Fernsehsendung Baader-Meinhof: „Wie groß ist die Gefahr“, im Jahre 1974 folgendes erklärt: „Jede Zeile dieses publizierten Materials wird zwischen dem Generalbundesanwalt und dem Bundeskriminalamt abgestimmt sein, so daß wir keinen Schaden, sondern nur Nutzen stiften mit einer solchen Aufklärung der Öffentlichkeit“. Wegen der teilweisen Veröffentlichung von Prozeßakten in der vom Bundesinnenministerium herausgegebenen Dokumentation unter Verstoß gegen strafrechtliche Bestimmungen[27] ist seinerzeit bei der Staatsanwaltschaft Bonn Strafanzeige erstattet worden. Das Ermittlungsverfahren gegen die für die Herausgabe der Dokumentationen Verantwortlichen wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt mit der Behauptung, die Veröffentlichung der Prozeßakten und der damit verbundene Verstoß gegen strafrechtliche Bestimmungen sei aus dem Gesichtspunkt des Notstandes - und hier kommt das Wort wieder -, sei aus dem Gesichtspunkt des Notstandes gerechtfertigt gewesen.[28] Daraus folgt, daß sich die Bundesregierung offenbar das Recht nimmt, sich auch über strafrechtliche Bestimmungen nach Belieben hinwegzusetzen, weil sich die Bundesrepublik nach Meinung der Bundesregierung im Notstand befindet. Unverhohlener kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß Ausnahmerecht praktiziert wird. Und vielleicht darf man in diesem Zusammenhang mal einen Mann, der, wie ich meine, ein wirklicher Verfechter des Rechtsstaates war, Adolf Arndt[29], zitieren aus dem Jahre 1961, der zu solchen Deklarationen gesagt hat: „Der angeblich überverfassungsgesetzliche Staatsnotstand als Schein der Rechtfertigung ist nur ein Tarnwort für Verfassungsbruch.“ Das ist ein gutes Wort. Man möchte sich wünschen, daß ein Adolf Arndt heute leben würde und vielleicht wieder seine Stimme erheben könnte. Das Fehlverhalten der Bundesregierung, die strafbare Aktenveröffentlichung kann bei strikter Anwendung von Artikel 6 der Menschenrechtskonvention nur, wenn überhaupt, durch Einstellung des Verfahrens ausgeglichen werden. Bei dieser Entscheidung kann wiederum auf die im Recht der Vereinigten Staaten entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden, denen zufolge bei einem misconduct of gouvernment, also einem Fehlverhalten der Regierung, die Einstellung des Verfahrens anzuordnen ist. Und ich darf Sie erinnern, ich hoffe, daß Sie es aus der Presse seinerzeit mit zur Kenntnis genommen haben, ich darf Sie erinnern an die Fälle Daniel Elsberg[30], das war die Frage der Veröffentlichung von bestimmten Geheimpapieren zum Vietnamvölkermord und zu dem Fall Wounded Knee[31], das ist dieser Indianerkonflikt seinerzeit gewesen. In diesen Fällen ist angeordnet worden die Einstellung des Verfahrens wegen Fehlverhaltens der Regierung, obwohl beispielsweise im Fall Daniel Elsberg sehr bedeutender Straf- [2288] tatbestand Gegenstand der Anklage war. Ein faires Verfahren ist auch deshalb nicht mehr möglich, weil die Verhandlung nicht vor dem gesetzlichen Richter stattfindet.[32] Ich will das nur hier der Vollständigkeit halber erwähnen. Die Ausführungen, die ich hierzu in früherem Prozeßstadium gemacht habe,[33] will ich dabei nicht wiederholen. Sie sind dem Gericht bekannt. Ich darf nur zwei Anmerkungen noch einmal dazu machen. Es war mir sehr interessant zu lesen in einem Bericht der Zeitung „Das Parlament“, das ja die Parlamentsdebatten im Wortlaut wiedergibt. Ausgabe vom 23. Februar 1974, Februar, 23. Februar 1974, in der Herr Ministerpräsident Filbinger, der ja über sicherlich genaue Detailkenntnisse verfügt unter anderem geäußert hat: „Selbst den Verzicht auf ein Beförderungsamt hat es schon gegeben, als absehbar war, daß mit diesem Amt die Führung eines spannungsgeladenen politischen Prozesses verbunden sein würde“. Und dann kamen Zurufe der SPD. Welcher Art von Zurufen die SPD da gemacht hat, das weiß ich nicht. Von einem fairen Verfahren kann zugleich deshalb nicht im entferntesten die Rede sein, weil das Prinzip der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung auch nicht mehr in bescheidenen Überresten gewahrt ist.
1. Durch ein Bündel von Maßnahmegesetzen die im Blitzverfahren[34] verabschiedet wurden, sind die Möglichkeiten der Verteidigung so verstümmelt worden, daß für eine sachgerechte Verteidigung unter Einbeziehung der politischen Dimension dieses Verfahrens keine Grundlage mehr vorhanden ist. Für diesen Prozeß wurden folgende gesetzliche Bestimmungen neu eingeführt bzw. geändert.[35] §§ 138 ff. der StPO Ausschluß des Verteidigers,[36] § 146 der StPO Verbot der Verteidigung mehrerer Beschuldigter,[37] Aufhebung von § 257a der StPO, Wegfall des Erklärungsrechts,[38] und nicht mitgezählt habe ich die neuen Stammheimer Vorschriften der StPO,[39] die allerdings außerhalb des normalen Gesetzgebungsverfahrens in Kraft getreten sind. Weitere Gesetze sind in Vorbereitung, darunter Überwachung des Briefverkehrs und der Gespräche zwischen Verteidiger und Beschuldigten, wobei unter anderem ja von besonderem Interesse ist, daß in diesem Zusammenhang ein Verdacht gegen den Anwalt nicht erforderlich sein soll. Damit will man einer Erörterung darüber, ob der Anwalt sich schuldig gemacht habe, grundsätzlich ausweichen. So ein Bericht in der „Welt“. Erweiterung der Gründe für den Ausschluß von Verteidigern, Änderung von § 245 der StPO, Einschränkung oder Abschaffung, d.h. also Einschränkung oder Abschaffung der Verpflichtung des Gerichts, präsente Beweismittel der Verteidigung in die Beweisaufnahme einzubeziehen.[40] Ich beziehe mich insoweit auf einen Beschluß der Justizminister des Bundes und der Bundesländer vom 7.5.1975 - also um das zu illustrieren was damit gemeint ist - also man will von vornherein unterbinden, daß etwa die Verteidigung, wie es ja mal in früheren Prozessen geschehen ist, einen Springer unmittelbar lädt. Das wäre dann z.B. nicht mehr möglich, daß die Verteidigung, die vielleicht eine andere Auffassung über den Gegenstand der Beweisaufnahme hat, einen solchen Zeugen laden will, dann würde eine solche Möglichkeit nicht mehr bestehen. Aber natürlich nicht nur solche Zeugen wie Herr Springer, sondern auch in ganz allgemeiner Form ein unmittelbares Ladungsrecht wäre damit dann entfallen, oder der Sinn des Ladungsrechts würde damit entfallen. Eine[q] weitere[r] Gesetzesinitiative Einführung des Kronzeugen,[41] Verschärfung des Haftrechts, Haftgrund stets dann, wenn Verdacht nach § 129[ StGB] besteht.[42] Ein- [2289] schränkung der absoluten Revisionsgründe,[43], als Beitrag zur rationelleren Gestaltung und Beschleunigung des Strafverfahrens. Wiederum laut Beschluß der Justizministerkonferenz vom 7.5.1975, Schaffung eines neuen Straftatbestandes zur Bekämpfung terroristischer Vereinigungen,[44] Erweiterung der Anzeigepflicht nach § 138 StGB auch die Gründung und den Fortbestand terroristischer Vereinigungen.[45] Daß es sich bei diesen gesamten Gesetzesvorhaben, sei es, daß sie schon in Kraft sind, sei es, daß sie noch erst in Kraft gesetzt werden sollen, um Sondergesetze für diesen Prozeß handelt, ist unbestreitbar. Das Gesetz über den Ausschluß von Strafverteidigern wurde mit Wirkung vom 1.1.1975, nachdem es von dem Gesetzgebungsgremien in höchster Eile verabschiedet worden war, in Kraft gesetzt. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens war so gewählt, daß der Bundesanwaltschaft ein ausreichender Zeitraum bis zum Prozeßbeginn am 21.5.1975 verblieb, die von ihr beabsichtigten Ausschlußverfahren durchzuführen.[46] Zugleich wurde aber auch vereitelt, daß sich die Verteidigung neu formieren und neu aufbauen konnte, wobei ja die Bundesanwaltschaft den Ausschluß, die Ausschlußverfahren so auch noch innerhalb dieses Zeitraums vom 1.1. bis 21.5. so nah an den Prozeßbeginn herangebracht hat, heranverlegt hat, daß also dieser Neuaufbau einer Verteidigung von vornherein ausgeschlossen werden konnte. Das gleiche gilt hinsichtlich des Zeitpunkts des Inkrafttretens von § 146 StPO, mit dem die Blockverteidigung verboten wurde.[47] Mit diesem Verbot der Blockverteidigung wurde eine tiefgreifende Beschränkung der Verteidigung vollzogen, weil eine sachgerechte Verteidigung gegenüber einer Blockanklage nur als Blockverteidigung möglich ist. Und der Senat hatte es ja zunächst einmal erkannt und auch anerkannt in der Form, daß er in der vor Inkrafttreten dieser Bestimmung alle Pflichtverteidiger[48] den gesamten, also sämtlichen Angeklagten beigeordnet hatte. Also in Form dieser Blockverteidigung. Und diese Anordnung wäre sicherlich nicht getroffen worden, wenn da nicht der Sinn erkannt worden wär, der da in dieser Form der Verteidigung drinsteckt.
Ende Band 112
[2290] Fortsetzung der Begründung des Antrags auf Einstellung des Verfahrens von RA Schily:
Zudem wurde durch die neue Bestimmung im § 146 Strafprozeßordnung für die Verteidigung[s] jedenfalls eine völlig neue Lage geschaffen, die eine vollständige Umgruppierung und Umstellung des Verteidigungskonzeptes notwendig machte. Diese Umstellung und Umgruppierung konnte innerhalb der verbleibenden Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 21. Mai 1975 nicht abgeschlossen werden. Erst recht natürlich nicht jetzt, sozusagen innerhalb des Verhandlungsablaufes. Der eingetretene Zeitverlust war nicht mehr aufholbar. Daß es sich eigens, um eigens für diesen Prozeß geschaffene Sondergesetze handelt, ist unter anderem von dem Bundesjustizminister selbst bestätigt worden. So heißt es in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 9. Mai 1975: „Vogel trat für eine Befristung der Verschärfungen im Strafrecht und im Strafprozeßrecht ein, die anläßlich der Baader-Meinhof-Prozesse im Augenblick notwendig seien“. Also Herr Vogel sagt, die Notwendigkeit anläßlich der Baader-Meinhof-Prozesse besteht augenblicklich, deshalb brauchen wir diese Gesetze. Später wenn diese[t] Prozesse vielleicht erledigt sind, dann können wir sie wieder in der Schublade verschwinden lassen. Ja, also freimütiger, man muß Herrn Vogel dafür selbst dankbar sein für diese Erklärung, man weiß es vorher, aber hier hat er[u] immerhin freimütig eingeräumt: Das sind Maßnahmegesetze, das sind Sondergesetze für die Baader-Meinhof-Prozesse. Und im übrigen haben wir ja festgestellt, die Bundesregierung und der Gesetzgeber sind ja sozusagen immer auf dem Sprung, mit[v] Argusaugen sehen sie auf diesen Prozeß, und wenn irgend etwas nicht so läuft wie man sich das vorstellt, dann hat man ein Gesetz selbstverständlich wieder zur Hand. Ich erinnere an den Prozeßbeginn, wo man dann selbstverständlich sofort in die Debatte eingetreten ist, ob nun nicht die Lückenfüllung vorgenommen werden müßte.[49] Allerdings wurde Herr Vogel da vom 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts überholt, der dieses Gesetz in der eigenen Werkstatt dann fabriziert hat.[50] Die Zerschlagung der Verteidigung wurde jedoch nicht nur auf der Ebene der Legislative sondern in einer konzertierten Aktion aller maßgeblichen politischen Instanzen durchgeführt. Sämtliche Verteidiger, die sich für die Wahrung der Rechte der Angeklagten eingesetzt haben, sahen sich frühzeitig immer mehr sich steigernder[w] Pression, Schikanen, Diffamierungen, Diskriminierungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Ich darf das jetzt hier vielleicht noch ergänzen, ich bin jetzt beim Punkt 2. Weil ich da eben eine Ziffer 1 erwähnt habe. Jetzt 2. Immer noch im Bereich der Waffengleichheit. Durch zahllose schikanöse Maßnahmen wurden die Verteidiger in ihrer Arbeit behindert, und zwar vom Beginn an. Die Angeklagten wurden in abgelegene Haftanstalten verlegt, um die Besuchsmöglichkeiten für die Verteidiger einzuschränken. Verteidiger wurden verspätet benachrichtigt, wenn die Beschuldigten um ihren Besuch gebeten haben. Die Haftanstalten verweigerten eigenmächtig Verteidigergespräche, unter anderem unter dem Vorwand, der Gefangene führe bereits ein Gespräch mit einem anderen von ihm beauftragten Anwalt. Bei Besuchen in der Haftanstalt mußten die Verteidiger eine entwürdigende Behandlung über sich ergehen lassen. Müssen das [2291] heute noch. Sie mußten sich im Gegensatz zu allen anderen Anwälten einer Leibesvisitation durch Justizvollzugsbeamte unterziehen. Bei solchen Leibesvisitationen wurde mitunter sogar die vollständige Entkleidung verlangt. Man hat beispielsweise Frau Kollegin Becker beim Besuch in der Haftanstalt gezwungen, sämtliche Kleidung abzulegen. In anderen Fällen wurden Verteidiger aufgefordert, vor ihrem Gespräch mit den Mandanten sich einer rektalen Untersuchung zu unterziehen. Nach Besuchen in der Haftanstalt wurden Verteidiger in mehreren Fällen vorübergehend festgenommen und für geraume Zeit in polizeilichen Gewahrsam gehalten. Neben diesen offenen Schikanen wird die Tätigkeit der Verteidiger durch ein mehr oder weniger unsichtbares Netz von Kontrollen überwacht und ausspioniert. Beispielsweise ich habe das in[x] einem früheren Verhandlungstag schon einmal erwähnt, beispielweise besteht offenbar für die Polizeibeamten, die am Flughafen in Berlin die Paßkontrolle vornehmen, eine Anweisung, meine sämtlichen Flugreisen aufzuzeichnen, und ferner, ich habe auch das Beispiel schon erwähnt, ist jüngst bei der Firma, bei der ich zu der Anreise vom Stuttgarter Flughafen zu diesem Gebäude, die sonst in anderer Form gar nicht möglich ist, weil ich sonst gar nicht pünktlich hier erscheinen kann, bei der ich also ein Auto mir miete, erschienen bei dieser Firma vor einiger Zeit mehrere Kriminalbeamte und verlangten Auskünfte hinsichtlich Fahrziel und ähnlichem. Vom Dach des Prozeßgebäudes wurden mehrfach Verteidiger von Beamten, möglicherweise des[y] Verfassungsschutzes, fotografiert, offenbar um festzustellen, mit welchen Begleitpersonen sie vor dem Haupteingang des Gebäudes erscheinen. Nach sicheren Anzeichen werden auch die Telefongespräche der Verteidiger abgehört. Welche weiteren „unkonventionellen Observationsmethoden“ auf die Verteidiger angewandt werden, dieser Ausdruck unkonventionelle Observationsmethoden ist ja wohl mal von einem Mitglied der Bundesanwaltschaft verwandt worden, darüber kann sicherlich die Bundesanwaltschaft die notwendigen Auskünfte erteilen. In einem sehr frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens gingen die Staatsschutzbehörden dazu über, die Verteidigungsunterlagen in regelmäßigen Abständen in den Zellen der Gefangenen zu beschlagnahmen. In mehreren Fällen wurden Anwaltskanzleien durchsucht und die Handakten der Verteidiger mit den Unterlagen aus diesem Verfahren mitgenommen. Und wissen Sie, manchmal hat man das Gefühl, durch ständige Rechtsverletzung entsteht so ein Gewöhnungseffekt der die Öffentlichkeit und die Prozeßbeteiligten nicht mehr erkennen läßt, daß das eigentlich, was das eigentlich heißt, wenn Verteidigungsunterlagen durchgesehen werden. Das ist doch, das ist einer der krassesten Rechtsverstöße, die es überhaupt gibt. Und noch nach Beginn der Hauptverhandlung wurden bekanntlich mehrere Anwaltsbüros von den Staatsschutzbehörden inspiziert und Verteidigungsmaterial in großem Umfange, auch Verteidigungsmaterial dieses Verfahrens, durchgesehen und beschlagnahmt. Daß nicht immer da also man auch wiederum auf Rechtsaltertümer Rücksicht genommen hat, sondern auf solche Kleinigkeiten wie Durchsuchungsbefehl verzichtet hat, darüber kann beispielsweise Herr Holland, der hier ja mit die Anklage vertritt, eine verbindliche Auskunft erteilen. Herr Holland war seinerzeit beteiligt an der Durchsuchung des Anwaltsbüros von Herrn Ströbele und seiner Kollegen in Berlin. Er hat sich drei Tage in Berlin aufgehalten, und nach drei Tagen hat er dann diese Durchsuchungsaktion gestartet. Er hatte keinen Durchsuchungsbefehl, er wurde gefragt, [2292] ich habe das damals im Fernsehen wohl gesehen, es war so ein Fernsehinterview, wieso denn nun eigentlich ohne Durchsuchungsbefehl? Da hat er gemeint, daß eine Gefahr im Verzuge[51] sei gewesen. Gefahr im Verzuge. War drei Tage da, und da sieht man, mit welcher Bravour man sich über diese Antiquitäten des Rechtsstaates, möchte man denken, hinwegsetzt. Die Bundesanwaltschaft hat sich durch diese Methoden eine detaillierte Kenntnis von praktisch der gesamten Verteidigungsvorbereitung verschafft. Und eine besondere Note enthält, erhält das Vorgehen der Staatsschutzbehörden dadurch, daß an den Durchsuchungen einiger der Anwaltsbüros und der Zellen der Gefangenen Herr Bundesanwalt Zeis beteiligt war, der auf diese Weise unmittelbar in die gesamten Verteidigungsunterlagen Einblick genommen hat. Wissen Sie, das muß man nun auch wiederum plastisch sehen. Das ist eigentlich so, daß Herr Zeis schon vorher hingegangen ist und sich die Akten angeguckt hat[z] hier von der Verteidigung. Er hat so Akteneinsicht genommen. Und ein Akteneinsichtsrecht der Bundesanwaltschaft in die Akten der Verteidigung, das steht jedenfalls nicht in der Strafprozeßordnung. Man kann also, um das zusammenzufassen[aa], längst bevor ein Gesetz hinsichtlich der Überwachung des Schriftverkehrs zwischen Beschuldigten und Verteidigern beschlossen ist, wurde den Angeklagten dieses Verfahrens das Recht auf unüberwachten Schriftverkehr mit ihren Verteidigern[52] praktisch aberkannt. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß gegen die Verteidiger eine wüste Diffamierungskampagne entfacht wurde, die sich im Verlauf des Verfahrens immer mehr gesteigert hat und mehr immer mehr steigert. Die Anwälte von Gefangenen aus der Roten-Armee-Fraktion wurden sozusagen für vogelfrei erklärt. Politiker und Journalisten einer bestimmten politischen Provenienz, wetteiferten darin, die Anwälte in jeder nur erdenklichen Weise zu verdächtigen, zu verleumden und zu beschimpfen. Bundesinnenminister Maihofer nannte die Anwälte Handlanger und Werkzeuge von Terroristen. Bei Franz-Josef Strauß, in seiner berüchtigten Sonthofener Rede, hieß es noch unverblümter, das sind reine Verbrecher, diese Anwälte, und viele andere Politiker waren und sind schnell bereit, die Anwälte ohne Rücksicht für Verluste auf den Rechtsstaat zu verdammen und sie „verbrecherischer Aktivitäten der Begünstigung oder komplizenhaften Unterstützung zu zeilen[bb]“. Auch große Teile der Presse und andere Massenmedien beteiligten und beteiligen sich an der verbalen Steinigung der Anwälte. Überschriften wie: „Die Anwälte des Terrors“ Zitat aus der „Neuen Rheinzeitung“ vom 19. November 1974 - oder: „Rechtsanwälte als Komplizen“ - „Rheinischer Merkur“ vom 22. November 1974 - oder: „Veranstalter eines Komplotts gegen den Staat verbunden mit Mordtaten“ - „Die Welt“ vom 28. November 1974 - waren keine Seltenheit. Es war nur folgerichtig, daß angesichts dieser haßerfüllten Hetztiraden, die zu einer Häufung der gegen die Anwälte gerichteten Morddrohungen geführt hat, der Chefkarikaturist und Altnazi Hicks nicht beiseite stehen wollte. Hicks, der während des dritten Reiches mit seinem hervorragenden „Humor“ in antisemitischen Witzzeichnungen seinen Beitrag zu den Judenpogromen[cc] und mit Verhöhnungen, mit seinen Verhöhnungen von Antifaschisten ich erinnere daran, daß er so eine Zeichnung da verfaßt hat, wenn jemand den Londoner Rundfunk hört, dann kann das[dd] die werte Rübe kosten; so hat er da getextet, der [2293] Herr Hicks - in seinen Verhöhnungen von Antifaschisten Beihilfe zu den Todesurteilen wegen sogenannter Wehrkraftzersetzung leistete, darf sich jetzt wieder in der „Welt“ mit einer Zeichnung produzieren, in der die Anwälte als Ratten, Ratten sind ja Ungeziefer, die vernichtet werden müssen, nicht, in der die[ee] Anwälte als Ratten dargestellt werden, die einzelne Paragraphen des Strafgesetzbuches herausbeißen. Die Unterschrift, die Herr Hicks dazu verfaßt hat: „Die Terroristen-Rechtswahrer“. Mit seiner Nazitradition ist der Herr Hicks so verhaftet, daß er[ff] unversehens wieder in seine Sprachgewohnheiten des dritten Reiches zurückfällt, in dem bekanntlich Anwälte als Rechtswahrer, der NS-Rechtswahrerbund unseligen Angedenkens, bezeichnet wurden. Wissen Sie, es hat mal einen Ankläger gegeben, der hat folgendes geschrieben: „Es ist Aufgabe des Anwalts, auch notfalls das Unerhörte zu Gehör zu bringen. Als die Presse die Verteidiger mundtot machen wollte, erklärte ich, als der Ankläger, daß der Prozeß kein richterliches Verfahren mehr sei und ich mein Amt des Anklägers niederlegen würde, falls es der Verteidigung nicht freistünde, diese Erwägungen vorzutragen. Was wäre das für eine kraftlose Freiheit, die es nicht ertrüge[gg], den letzten Fragen des Rechts unbeirrbar auf den Grund zu gehen“ Ich habe in dem Zitat ein Wort jetzt ausgelassen, der erste Satz heißt: „Als die Presse die Verteidiger als Nazianwälte“. Das war Herr Arndt, der das geschrieben hat und Herrn Laternser in Schutz genommen hat,[53] der also für seine Mandanten bestimmte Rechtsauffassungen im NS-Verfahren vorgetragen hatte. Es ist nahezu unvorstellbar, daß etwa Herr Zeis eine ähnliche Erklärung, das Wörtchen „nahezu“ spare ich mir, es ist unvorstellbar, daß etwa Herr Zeis eine Erklärung wie Herr Arndt abgeben könnte. Das Propagandatrommelfeuer, das die Anwälte seit Jahren über sich ergehen lassen müssen, sollte das Einverständnis der Öffentlichkeit mit den immer weiter gehenden Einbrüchen der Exekutive in geschützte Anwaltsrechte sichern, und zugleich verhindern, daß in der Öffentlichkeit die unmenschlichen Haftbedingungen, denen politische Gefangene unterworfen werden, eine breitere Aufmerksamkeit finden. Es wurde[hh] ja sozusagen, es wurde ja sozusagen die Verwendung bestimmter Wörter zur Verteidigung der Angeklagten kriminalisiert. Das muß man sich mal vorstellen, was das heißt. Also ein Verteidiger bestimmte Worte verwendet, meinethalben Isolationshaft, oder Isolationsfolter, wurde ein solcher, eine solche Sprache kriminalisiert. Und es war kein Zufall, daß sich die Angriffe gegen die Verteidiger immer dann erheblich verstärkt haben, als die Anwälte die Öffentlichkeit wegen der unmenschlichen Haftbedingungen alarmiert haben. Das können sie minutiös zurückverfolgen. Daß immer dann diese Angriffe, wenn es um die Rechte der Angeklagten ging, daß dann die Angriffe gegen die Anwälte sich gerichtet haben. Diese Angriffe blieben aber nicht etwa, die Anwälte, die ja einen Schutz bilden sollen, zur Wahrung der Rechte, der verbrieften Rechte der Angeklagten, der Untersuchungsgefangenen. Dieser, diese, übrigens auch ein gutes Beispiel, das kann ich auch mal hier zwischendurch erwähnen, wie diese Einschränkung der Verteidigerrechte funktioniert. Neuerdings sind beispielsweise Presselisten, also Listen mit Adressen von Presseangehörigen, ein Verbrechenswerkzeug. Das ist interessant. Ich habe hier ein Schreiben vor mir, an Herrn [2294] Kollegen Dr. Croissant vom 15. August 1975. Von Herrn Ersten Staatsanwalt Pfiszter unterschrieben. Der schreibt da an Herrn Dr. Croissant: „Ihrer fernmündlich geäußerten Bitte um Aushändigung der bei ihm beschlagnahmten Presseliste wird nicht entsprochen, da davon ausgegangen werden muß, daß Sie die Liste bei dem Ihnen vorgeworfenen strafbaren Verhalten[54] gebraucht haben und die Gefahr besteht, daß Sie mit ihrer Hilfe dieses Verhalten fortsetzen“. Also ich habe Herrn Kollegen Dr. Croissant natürlich sofort empfohlen, sein amtliches Fernsprechverzeichnis bei Herrn Pfiszter abzuliefern, da er sich sonst ja dem Verdacht aussetzen könnte, weil ja da mitunter auch die Presseadressen drinstehen, daß er sich sonst dem Verdacht ja auch aussetzen könnte, mit Hilfe des amtlichen Fernsprechbuches, allerdings ein bißchen schwieriger, sein strafbares Verhalten fortzusetzen[ii]. Aber ich wollte darüber etwas sagen, daß sich diese Art der Verfolgung, Diffamierung, nicht auf die Anwälte beschränkt, sondern immer dann, wenn, aus welcher Berufsgruppe auch immer, jemand meint, für die Rechte der Angeklagten, der Gefangenen, eintreten zu müssen und zu dürfen, deshalb, dann hat er mit Verfolgung zu rechnen, da hat er tatsächlich mit Verfolgung zu rechnen und dazu vielleicht mal einen Bericht in der Stuttgarter Zeitung vom 12.8.1975, der den zutreffenden Titel trägt: „Sonderbare Gangart in der Verfolgung angeblicher Staatsfeinde“. Das ist ein richtiger und richtiger Titel. Dieser Artikel beschäftigt sich mit Herrn Dr. Jakobs, der den Mut besessen hat, sich für die Untersuchung der Untersuchungshäftlinge Grundmann, Jünschke und Grashof[55] auf ihren Gesundheitszustand während des Hungerstreiks[56] zur Verfügung zu stellen und zwar in Vertretung eines Kollegen. Dieser Dr. Jakobs, diesem Dr. Jakobs ist es eigentlich zu verdanken, daß diese drei Untersuchungshäftlinge noch am Leben sind. Denn er hat ihre Überführung in die Intensivstation der Mainzer Universitätsklinik veranlaßt und sie wissen ja, Holger Meins wäre auch heute noch am Leben, wenn man ihn in eine Intensivstation gebracht hätte.[57] Dieser Mann hat also drei Untersuchungshäftlingen ...
Vors.:
Warten Sie auf was Bestimmtes, Herr Verteidiger.
RA Sch[ily]:
Ich weiß nicht, warum Sie unruhig werden.
Vors.:
Ich bin nicht unruhig geworden. Sie können fortfahren, ich sehe keinen Grund zu warten, oder benötigen Sie eine Pause.
RA Sch[ily]:
Ich benötige keine Pause, wenn Sie eine benötigen, sagen Sie es mir bitte. Dr. Jakobs hat diesen drei Untersuchungsgefangenen das Leben gerettet, oder, Entschuldigung, ich mache hier einen Fehler, Grundmann und Jünschke, Frau Kollegin Becker macht mich mit Recht darauf aufmerksam, es waren Grundmann und Jünschke, die in die Intensivstation gebracht werden mußten. Also nicht Herr Grashof. Und was ist nun diesem Herrn Dr. Jakobs widerfahren. Ich darf aus dem Bericht zitieren: „In der kleinen Gemeinde Simmersfeld im Landkreis[jj] Calw haben sich die Gemüter immer noch nicht beruhigt. Am Morgen des 12. Mai war der Teufel los. Bewaffnete Polizisten umstellten um 7.00 Uhr das Haus des Landarztes Dr. Johannes Jakobs, der nach Auskunft der zuständigen Stuttgarter Staatsanwaltschaft in den Verdacht [2295] geraten war, zu den Sympathisanten und Helfern der Baader-Meinhof-Gruppe zu gehören. Auch heute regt sich der 34jährige Mediziner noch nicht darüber auf, daß er ziemlich abrupt von 4 Polizeibeamten geweckt wurde, die von der Wirtin eingelassen, plötzlich neben seinem Bett standen und ihre Pistolen auf ihn richteten, sowie einem weiteren Beamten, der gar mit einer Maschinenpistole auf ihn zielte. Das ist eine gefährliche Sache nach dem Fall Mac Leod.[58] Er trägt auch mit Fassung, daß man ihn, also die Fassung war ja gut, er trägt auch mit Fassung, daß man ihn anschließend bis um 11.00 Uhr in dem Wartezimmer seiner Praxis unter Bewachung hielt, während das Haus auf richterliche Anordnung durchsucht wurde. Nicht korrekt findet er allerdings, daß die Polizeibeamten auch seine Patientenkartei durchsuchten, was er für einen eindeutigen Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht hält, und daß man eine Bauersfrau aus der Nachbarschaft, bei der der Doktor seine Ponys untergestellt hat, angeblich mit gezückter Waffe aufforderte: „Los, zeigen Sie uns das Versteck, in dem Sie die Pakete von dem Doktor verborgen haben“. Sicher ist es ebensowenig korrekt, daß man das Zimmer eines damaligen Assistenten von Jakobs in dessen Abwesenheit ohne einen richterlichen Durchsuchungsbefehl einfach aufbrach und durchsuchte. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft nennt dies erstaunlicherweise schlicht einen formalen Fehler. Weil Dr. Jakobs um die Gewichtigkeit des Themas bei der Baader-Meinhof und eine daraus inzwischen resultierende Hysterie weiß, ist er bereit, manche häßlichen Erscheinungen bei diesem Vorfall nicht überzubewerten. Energisch wehrt er sich allerdings dagegen, daß auch ein Vierteljahr nach dieser Hausdurchsuchung, immer noch ohne Bescheid für ihn, von der Staatsanwaltschaft ermittelt wird. Im Alltag heißt dies für den Simmersfelder Landarzt, gegen den es nach der Polizeiaktion vom 12. Mai zahlreiche Beschimpfungen und selbst Morddrohungen anonymer Anrufer gab, daß in aller Öffentlichkeit nach wie vor der Verdacht aufrechterhalten wird, er habe eine sogenannte Anarchistengruppe unterstützt. Nach etlichen, vergeblichen Gesprächen mit der Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat Jakobs nun mit einem Leserbrief in der Lokalzeitung ein rasches Ende des Ermittlungsverfahren gegen ihn und seine Rehabilitation gefordert. Unterstützt wurde er dabei von seinem Kollegen und Nachbarn, Dr. Wilhelm Gütemeier, der gleichzeitig einen offenen Brief an den untersuchenden Staatsanwalt veröffentlichte. Bisher gibt es[kk] aus Stuttgart dazu allerdings keinerlei Reaktion. Dieser Tatbestand erstaunt dann kaum noch, denn der zuständige Staatsanwalt nämlich empfindet es bereits als unverständlich, daß Jakobs von dem ihm gesetzlich verbrieften Recht Gebrauch machte, durch seinen Anwalt am 9. Juni gegen Hausdurchsuchung und Ermittlung gegen ihn Beschwerde vor Gericht einzulegen. Auf dem Schreibtisch des Staatsanwalts landete diese Beschwerde am 12. Juni. Immerhin dauerte es dann jedoch noch bis zum 27. Juni, bis der Einspruch an die zuständige Beschwerdekammer beim Landgericht Stuttgart weitergereicht wunden. Am 5. August erkun- [2296] digte sich die Stuttgarter Zeitung bei der Staatsanwaltschaft nach dem Stand der Dinge und wurde an die Beschwerdekammer verwiesen. Am 6. August war wiederum dort zu erfahren, daß in der Sache Jakobs schon am 23. Juli ein Beschluß ergangen sei. Ein sofortiger Rückruf bei der Staatsanwaltschaft ergab, erstaunlich, die Akten sind bis zur Stunde nicht bei uns eingetroffen. Am 7. August rief schließlich der verantwortliche Richter für die Beschwerdekammer in dieser Sache bei der Stuttgarter Zeitung an und vermeldete, es sei sicherlich, eine sicherlich bedauerliche Panne passiert. Er selbst sei im Urlaub gewesen und die Akten Jakob seien eingeschlossen worden, und somit habe nie der längst fällige Botengang von Beschwerdekammer zur Staatsanwaltschaft erfolgen können. Eine wahrhaft erstaunliche Gangart, angebliche Terroristen oder ihre Helfershelfer zu verfolgen. Aber Johannes Jakobs in Simmersfeld wird sich über unsere Justiz weiter ärgern müssen. In einem Gespräch teilte der ermittelnde Staatsanwalt nicht etwa dem Betroffenen, sondern der Stuttgarter Zeitung mit, daß ihm der Doktor zwar menschlich leid tue, er nun aber dennoch zunächst in Urlaub gehe. Damit sind anscheinend die Ermittlungen weiter blockiert.“ Also mit diesem Zitat aus dem Bericht soll es sein Bewenden haben, aber das sind nun die Erfahrungen, die jemand macht, der den Mut hat, in einer solchen Sache als Arzt zu Gunsten von Untersuchungsgefangenen, von politischen Gefangenen, tätig zu werden, und das ist nur ein besonders illustratives Beispiel, ich könnte die Beispiele um viele vermehren, aber ich will darauf verzichten, weil das mir als besonders eindrucksvoll erscheint. Die Ausschaltung von Verteidigern wiederum, ich kehre zu den Verteidigern zurück, vollzog sich in mehreren Etappen und auf mehreren Ebenen. Drei Anwälte, die in dem Verfahren gegen die Angeklagten am längsten tätig und am besten eingearbeitet waren, wurden zum taktisch günstigsten Zeitpunkt kurz vor Beginn der Hauptverhandlung ausgeschlossen.[59] Grundlage des Ausschlusses waren haltlose Beschuldigungen, die Tatsachen hierzu sind bekannt. Von besonderer Bedeutung ist, daß Kernbereiche anwaltlicher Tätigkeit in den Ausschlußentscheidungen als strafbare Unterstützung einer kriminellen Vereinigung qualifiziert worden sind. Die Praxis setzte sich in den Strafverfahren gegen die betroffenen Anwälte fort.[60] Die jüngst ausgefertigten Haftbefehle gegen die Rechtsanwälte Ströbele, der gegen Herrn Ströbele ist ja inzwischen aufgehoben, und Croissant dokumentieren, daß bereits das öffentliche Eintreten für die Änderung von Haftbedingungen, das Verbreiten von den in[ll] öffentlicher[mm] Verhandlung abgegebenen Prozeßerklärungen sowie die Vorbereitung der Verteidigung unter Berücksichtigung der von den Gefangenen entwickelten politischen Vorstellungen als strafbare Unterstützung einer kriminellen Vereinigung geahndet werden soll.
Ende Band 113.
[2297] Damit wird Verteidigung, weil diese begrifflich stets Unterstützung eines Angeklagten ist, zur strafbaren Handlung als Unterstützung einer kriminellen Vereinigung deklariert. Um es auf eine knappe Formel zu bringen: Verteidigung von politischen Gefangenen, die sich nicht nach den Maßstäben, nach den von den Staatsschutzbehörden ausgegebenen Maßstäben richtet, ist strafbar. Unter diesen Umständen bleibt es dem Belieben und den politischen Zweckmäßigkeitserwägungen der B. Anwaltschaft überlassen, ob sie das Verbleiben eines Verteidigers in dem Verfahren duldet oder nicht. Die hinterbliebenen Anwälte sind deshalb nur Verteidiger auf Abruf. Element des psychologischen Feldzuges gegen die Anwälte ist immer auch die Einleitung von Strafverfahren. Als ich vor kurzem die Inhaftierung der Anwälte Ströbele und Croissant sowie die Durchsuchung von Anwaltskanzleien scharf kritisiert habe, war die Staatsanwaltschaft in Berlin schnell mit der Pressemeldung bei der Hand, daß gegen mich ein Ermittlungsverfahren wegen Beleidigung eingeleitet worden sei, und das erschien ja hier z. B. in den „Stuttgarter Nachrichten“ natürlich auch auf S. 1 - ich meine, ich hab nichts dagegen - aber die Staatsanwaltschaft in Berlin hat ja damit einen bestimmten Zweck verfolgt, daß sie eine solche Pressemeldung sofort herausbringt. Als Anwälte die Umstände, unter denen Holger Meins zu Tode gekommen ist,[61] öffentlich kritisiert und gefordert haben, daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, war die Antwort des B. Justizministers nicht die Einsetzung einer Untersuchungskommission, sondern der von der Tribüne des B. Tags vor einem Millionenfernsehpublikum verkündete Strafantrag gegen vier namentlich genannte Verteidiger. Seitdem sind mehr als acht Monate vergangen, ohne daß einer der Anwälte je wieder etwas von dem angeblich gegen sie eingeleiteten Strafverfahren gehört hätte. Aber der B. Justizminister hat seinen Strafantrag vor dem Millionenfernsehpublikum verkündet. Weil es zweckmäßig erscheint, werden Verteidiger in Haft genommen; reichlich angejahrte Verdachtsgründe werden zum angeblich dringenden Tatverdacht[62] aufgemöbelt. Bei der Auswahl der Anwälte, die inhaftiert wurden, fällt auf, daß die Anwälte für die Haft auserkoren wurden, bei denen offenbar nach Meinung der zuständigen Behörden ein vorläufiges Berufsverbot nicht innerhalb kurzer Frist durchzusetzen war. Der Verteidiger, der auch ausgeschlossen war, gegen den ein vorläufiges Berufsverbot verhängt worden war, blieb von der Verhaftung verschont. Es war der Kollege Groenewold. Sozusagen als Ableger der Strafverfahren wurden gegen die Verteidiger eine Vielzahl von Ehrengerichtsverfahren[63] bzw. ehrengerichtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet, teils, um sie einzuschüchtern, teils, um ihnen die Fortsetzung ihrer Berufstätigkeit unmöglich zu machen. [2298] Auch die Einleitung ehrengerichtlicher Ermittlungen wurde meist der Presse mitgeteilt. So wurde die Meldung über die Einleitung eines ehrengerichtlichen Ermittlungsverfahrens gegen den Unterzeichneten just zu dem Zeitpunkt über die Berliner Justizpressestelle verbreitet, als die sog. Aktion „Winterreise“[64] im Gange war. Die Meldung über die Einleitung eines ehrengerichtlichen Ermittlungsverfahrens gegen mich - Gegenstand dieses Ermittlungsverfahrens waren Äußerungen auf einer Pressekonferenz - erhielt damit einen Zusammenhang mit den Berichten über die Aktion „Winterreise“, und wer das noch im Gedächtnis hat, wie das also rausgebracht wurde, grade diese Aktion „Winterreise“ auf den ersten Seiten der Zeitung, der versteht wiederum, was das für psychologische Auswirkungen hat, wenn so was verbunden wird. Das ist zum Teil technisch brillant gemacht, technisch brillant gemacht. Inzwischen ist dieses ehrengerichtliche Ermittlungsverfahren - wie mir jüngst von der Berliner Staatsanwaltschaft mitgeteilt worden ist - eingestellt worden. Daß davon die Presse nicht ein Sterbenswort erfährt, ist ganz selbstverständlich; das ist ganz selbstverständlich. Also der Vorgang ist so:
Erstmals in der Aktion „Winterreise“ da wird das groß herausgebracht. Jedermann kann sich denken: Naja, also Durchsuchung von Quartieren und Hauptquartieren von Terroristen und dann auch noch gegen den Schily ein ehrengerichtliches Ermittlungsverfahren. Na, da steckt doch was dahinter. Und wenn das Verfahren dann eingestellt ist - das ehrengerichtliche Ermittlungsverfahren - dann ist natürlich nie mehr davon die Rede. Abgesehen davon, daß es natürlich möglichst lange auch Zeit braucht, und dann irgendwann wo niemand mehr eigentlich weiß, worum es geht. Da wird das dann gemacht.
Daß auf die Verteidiger auch in anderen Bereichen vielfacher Druck ausgeübt wird, weiß jeder, der mit den Verhältnissen einigermaßen vertraut ist. Man könnte das, die Übernahme einer Verteidigung in diesem Verfahren, als ein juristisches Himmelfahrtskommando bezeichnen; aber das ist vielleicht ein Ausdruck, der zu sehr mit dem Militärjargon verhaftet ist, als daß er hier angebracht ist.
Ein Beispiel für diesen Druck ist der Kollege Ströbele, der wegen seiner Tätigkeit als Verteidiger, insbesondere wegen seines Eintretens für menschenwürdige Haftbedingungen und der aus diesem Grunde geführten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem damaligen Berliner Justizsenator Horst Korber, aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ausgeschlossen wurde. RA Ströbele wurde in dem Parteiausschlußverfahren u. a. vorgeworfen, daß er einen öffentlichen Aufruf unterzeichnet hatte, mit dem eine Podiumsdiskussion zu den Haftbedingungen politischer Gefangener gefordert wurde.
Ich habe seinerzeit auch Herrn Korber in einem offenen Brief - zunächst einmal ohne offenen Brief und später [2299] in Form des offenen Briefes - gebeten, doch sich einer Podiumsdiskussion zu stellen mit einem neutralen Podiums... einem neutralen Diskussionsleiter, einem Gremium, also der Besetzung dieses Podiums, wie man sich das untereinander dann auch verständigen könnte und auch einem Publikum, wie es sich das Herr Korber wünscht, also Ort und Zeit nach Belieben von Herrn Korber, weils ja da seinerzeit darum ging, einfach mal Behauptungen gegen Behauptungen zu stellen, um dann zu prüfen, wer sagt die Wahrheit und wer sagt die Unwahrheit. Und allein die Tatsache, daß der Kollege Ströbele es gewagt hat, einen solchen öffentlichen Aufruf zu unterstützen und Herrn Korber zu einer solchen Diskussion herauszufordern, das hat ihm den Ausschluß aus der SPD eingetragen, unter anderem, unter anderem eingetragen. Die Zerschlagung der Verteidigung, die die Angeklagten bis auf einige kleinere prozessuale Bastionen nahezu wehrlos macht, vervollständigt die Waffenungleichheit, die ohnehin zwischen Anklagevertretung und Verteidigung besteht. Die ungeheure Übermacht der B. Anwaltschaft, die für die von ihr für zweckmäßig erachteten Ermittlungen über einen fast unbegrenzten personellen und materiellen Apparat verfügt, ist nicht auszugleichen. Man muß sich das vor Augen führen: Das mit einem Etat von jährlich 130 Millionen DM und 2.400 Mitarbeitern ausgestattete B. Kriminalamt gibt der B. Anwaltschaft jede nur erdenkliche Möglichkeit, in diesem Verfahren alles als Tatsache darzustellen, was sie als Tatsache darzustellen wünscht, ohne daß die auf fünf aktive Verteidiger reduzierte Verteidigerbank auch nur eine nennenswerte Chance hätte, den Sachverhalt im einzelnen zu überprüfen. Es ist ja ohnehin immer ein Handikap der Verteidigung, daß sie eigentlich im Bereich des Ermittlungsverfahrens weitgehend von der Mitwirkung ausgeschlossen ist. Aber hier, wo alle Mittel des Staates, wie Herr Kühn sich wohl ausgedrückt hatte, mobilisiert werden und auch zur Verfügung stehen, noch von einer Waffengleichheit zu sprechen, wäre ja abenteuerlich, und wie gesagt, die Zahlen sind ja außerordentlich eindrucksvoll. Das muß man sich einfach mal vergegenwärtigen, wie der personelle Apparat ist. Ich verfüge - ja, darüber kann ich ruhig sprechen über z. B. die Zahl meiner Mitarbeiter, ja? - ich habe jetzt im Moment, glaube ich, vier Sekretärinnen, wenn ich richtig zähle; ich habe einen Kollegen, der bei mir mitarbeitet und einige Referendare. Das ist etwa die Bürobesetzung. Ich muß selbstverständlich, um überhaupt hier eine solche Verteidigung wahrnehmen zu können und meinen Unkostenetat einigermaßen als Anwalt zu verdienen, muß ich selbstverständlich auch noch andere Mandate betreuen. Ich will auch nicht meine Praxis vollkommen ruinieren. Ich kann ja nicht meine Praxis nur noch mit Baader-Meinhof beschäftigen. Wenn Sie das mal vergleichen - und den anderen Kollegen geht’s sicher ähnlich - [2300] wenn Sie das mal einfach nur schon von da aus, wenn Sie das einfach von da aus mal vergleichen, dann sehen Sie die Dimension, die Proportion, die hier sich gegenüberstehen. Und zu diesem Punkt gehört selbstverständlich auch die Akteneinsicht. Sie verweigern uns ja in den größten Teil der Akten die Einsichtnahme. Das gehört auch in den Bereich dieser Waffenungleichheit.
Bei dieser Ausgangssituation kann eine Beweisaufnahme in diesem Verfahren nur die Schaustellung seitens der Ermittlungsbehörden vorfabrizierter Tatsachen sein.
Herr Vorsitzender, ich sehe, es ist 12.06 Uhr. Ich habe noch eine ziemliche Portion hier vorzutragen. Ich wäre dankbar, wenn jetzt die Mittagspause eintreten könnte.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt, wir hatten ja gestern erwartet, nach dem, was angekündigt war, daß es etwa zwei Stunden dauern würde. Nun sagen Sie, Sie hätten noch länger vorzutragen. Wie lang wird das dauern?
RA Sch[ily]:
Naja. Nach dem bisherigen ... so, wie es bisher gelaufen ist, schätz ich fast noch ne Stunde wenn nicht mehr. Also ich kann’s schwer abschätzen, weil, wissen Sie, der Text ist praktisch nur das Gerippe.
Vors.:
Aber wir müßten dann, wenn wir jetzt die Pause einlegen, etwas früher beginnen; denn wir wollen heute den Antrag auf jeden Fall ...
Bitte? Herr Rechtsanwalt, darf ich mich zunächst mal ganz kurz noch mit Herrn RA Schily verständigen.
Also mindestens müßten wir dann wieder um 13.45 Uhr beginnen.
RA Dr. He[ldmann]:
Wir müssen doch zu den Mandanten rübergehen, Herr Vorsitzender, nicht?
Vors.:
Herr RA v[on] Plottnitz, haben Sie ...
RA Dr. He[ldmann]:
Vor 1.00 Uhr werden wir nicht eingelassen werden.
[2301] RA v[on] Pl[ottnitz]:
Herr Vorsitzender, ich möchte beantragen:
mit der Fortsetzung der Nachmittagssitzung nicht zu beginnen vor 14.30 Uhr;
und zwar ist die Situation so:
Wir können erst in der JVA frühestens Besuch machen bei den Mandanten um etwa 13.00 Uhr. Zwar kann man ab 12.30 Uhr wieder in die JVA, aber die Durchsuchung und die ... der Transport bis in den 7. Stock nimmt aller Erfahrung zufolge immer so 20 Minuten etwa in Anspruch. Darüber hinaus: Wenn jetzt Sitzungsende ist, müssen wir essen. Das nimmt auch Zeit in Anspruch, und die Unterredung mit den Mandanten wird auch entsprechend lange Zeit in Anspruch nehmen.
Vors.:
Gut. Wollen wir nicht mehr viel Zeit verlieren.
Ich glaube, wir könnten jetzt in die Pause eintreten.
Um 14.00 Uhr Fortsetzung. Aber länger können wir’s nicht hinausziehen, sonst kommen wir heute mit dem Prozeßtag nicht ...
RA v[on] Pl[ottnitz]:
Dann beanstande ich das. Ich hatte beantragt:
14.30 Uhr.
Dann möchte ich insoweit einen Senatsbeschluß.
Vors.:
Das ist natürlich nun eine Sache der Prozeßleitung.[65] Eine Verfügung, die geht an sich den Senat nichts an. Der Senat ist genau derselben Auffassung wie ich. Aber ich bleibe bei der Entscheidung:
Um 14.00 Uhr setzen wir dann fort,
damit’s nicht heute abend zu spät wird.
Pause von 12.08 Uhr bis 14.10 Uhr.
Ende von Band 114.
[2302] Fortsetzung der Hauptverhandlung um 14.10 Uhr
Vors.:
Wir können fortsetzen. Herr Rechtsanwalt Schily Sie haben das Wort.
Referendar Dr. T[emming]:
Ich habe noch einen Antrag zu stellen.
Vors.:
Darf ich fragen, um was für einen Antrag es sich handelt.
Referendar Dr. T[emming]:
Um einen Ablehnungsantrag.
Hiermit lehne ich im Namen der Gefangenen Ulrike Meinhof die Richter des 2. Senats des Oberlandesgericht Stuttgart, den Vorsitzenden Richter Dr. Prinzing, die Richter Dr. Foth, Dr. Breucker, Maier und Berroth wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.
Begründung:
Der Ausschluß der Gefangenen von der heutigen Hauptverhandlung ist durch die Strafprozeßordnung nicht gedeckt.
Nach § 231b StPO ...
Vors.:
Verzeihen Sie, haben Sie das schriftlich, so daß wir’s nachher haben, sonst würde ich Sie bitten, etwas langsamer zu lesen, damit mitgeschrieben werden kann.
Referendar Dr. T[emming]:
Ich hab’s handschriftlich. Ich fürchte, das werden Sie nicht lesen können.
Vors.:
Doch wir können.
Referendar Dr. T[emming]:
Doch Sie können, gut. Also, das stelle ich Ihnen zur Wahl.
Vors.:
In Ordnung.
Referendar Dr. T[emming]:
Nach § 231b StPO, der einzigen Grundlage, die in Frage kommt, ist der Ausschluß nur gerechtfertigt, wenn ein Angeklagter wegen ordnungswidrigem Benehmen aus dem Sitzungssaal entfernt wurde und solange zu befürchten ist, daß die Anwesenheit des Angeklagten den Ablauf der Hauptverhandlung in schwerwiegender Weise, ich wiederhole, in schwerwiegender Weise be- [2303] einträchtigen würde.
Den abgelehnten Richtern wurde von der Verteidigung heute eindringlichst dargelegt, daß die am 20.8.1975 zum Anlaß für den Ausschluß der Angeklagten genommenen Äußerungen der Angeklagten von den Richtern selbst provoziert wurden. Die Angeklagten fühlten sich nicht mehr in der Lage, dem Prozeß mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu folgen. Die ärztlichen Sachverständigen haben schriftlich mitgeteilt, die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten sei auf drei Stunden pro Tag beschränkt. Wie diese drei Stunden zu berechnen sind, ist weiterhin ungeklärt. Die fernmündliche Mitteilung eines der Gutachter gegenüber dem Vorsitzenden Richter, Pausen und Unterbrechungen seien von den drei Stunden abzuziehen, besagt nichts. Gerade in Pausen werden zwischen Verteidigern und Gefangenen wichtige Verteidigungsfragen erörtert. Diese Pausen stellen somit ebenfalls Verteidigungstätigkeit dar. Daß dem Gutachter bei seiner fernmündlichen Erläuterung diese Probleme mitgeteilt wurden, hat der Vorsitzende Richter nicht behauptet. Bei seiner bisherigen Verhandlungsführung, seinen Versuchen, die Verhandlungsunfähigkeit zu verschleiern, die nicht zuletzt seit Oktober 1974 auf seinen Isolationsbeschlüssen beruht, war dies auch nicht zu erwarten. Am gestrigen Verhandlungstag war unter richtiger Auslegung der schriftlichen Gutachteräußerung der Zeitpunkt erreicht, ab welchem die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten nicht mehr garantiert war. Das Verlangen der Angeklagten, die Hauptverhandlung zu unterbrechen, war daher gerechtfertigt. Die Weigerung des Gerichts, diesem Verlangen stattzugeben, war rechtswidrig. Die Angeklagten hatten demzufolge nur die Wahl, als bloße Objekte das Verfahren über sich ergehen zu lassen oder durch entsprechende Äußerungen die Voraussetzungen einer insoweit ohnehin änderungsbedürftigen StPO zu schaffen, dieser Objektstellung durch die Entfernung von der Verhandlung zu vermeiden.
Bei diesem Hintergrund ist es bereits allenfalls formal möglich, den Anlaß des Ausschlusses gestern als ordnungswidriges Benehmen im Sinne des § 177 GVG aufzufassen, denn [2304] inhaltlich will § 177 GVG verhindern, daß ein Angeklagter trotz ordnungswidrigen Benehmens weiterhin an der Verhandlung teilnimmt. Zweck des § 177 GVG ist also, einen Angeklagten daran zu hindern, weiterhin am Verfahren teilzunehmen, wohlgemerkt ein Angeklagter, der weiterhin teilnehmen will. Will dieser Angeklagte gerade nicht, äußert er sich deshalb ordnungswidrig, um aus der Hauptverhandlung herauszukommen, weil er anders von seiner Anwesenheit nicht entbunden wird, dann ist dieser Vorgang nichts als ein Zusammenwirken des Gerichts mit den Angeklagten, um diesen mangels anderweitiger gesetzlicher Grundlage das Entfernen aus der Verhandlung zu ermöglichen und um für das Gericht formal die gesetzliche Absicherung der Abwesenheit zu verschaffen, d.h. einen sonst vorliegenden Revisionsgrund zu vermeiden.[66]
Dieses Zusammenwirken, das gewiß nicht freiwillig ist, besteht. Dem Gericht ist völlig klar, daß die sog. Störungen lediglich den aktuellen Zweck verfolgten, die rechtswidrige Fortsetzung der Verhandlung trotz mangelnder Verhandlungsfähigkeit jedenfalls für die Angeklagten zu verhindern.
Wenn das Gericht bei dieser Kenntnis nunmehr den Schluß zieht, es sei zu befürchten, die Angeklagten würden auch in der heutigen Hauptverhandlung deren Ablauf beeinträchtigen, gar in schwerwiegender Weise, so besteht für diesen Schluß auch nicht der geringste tatsächliche Anhaltspunkt. Das bisherige Verhalten der Angeklagten erfüllte niemals die Voraussetzung einer Beeinträchtigung des Ablaufs der Hauptverhandlung in schwerwiegender Weise. Anlässe und Durchführung der jeweiligen Ausschlüsse nahmen nur unerhebliche Zeit in Anspruch. Die wahren Verzögerungen dieser Hauptverhandlung beruhen auf den orchestrierten Sondermaßnahmen aller Staatsgewalten, des Gesetzgebers, der Exekutive, der Bundesanwaltschaft, schließlich des Gerichts.
Der Ausschluß der Gefangenen von der heutigen Verhandlung ist ein weiteres Glied in der offensichtlichen Kette dieser Sondermaßnahmen. Zweck dieses Ausschlusses ist in der Tat die Gewährleistung des Ablaufes dieser Hauptverhandlung, die Verhinderung von weiteren Verzögerungen. Nur, diese Verhinderung befürchten die abgelehnten Richter nicht durch das Verhalten der Angeklagten. Diese Verhinderung befürchten sie [2305] - zu Recht - in der zeitlichen Begrenzung der Verhandlungsfähigkeit. Das - und ausschließlich das- kommt angesichts der geschilderten Umstände als Grund für den Ausschluß der Angeklagten in Betracht. Damit aber versuchen die abgelehnten Richter die Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten, die sie bisher selbst permanent in Abrede stellten und die nun jedenfalls partiell nicht mehr geleugnet werden kann, zu unterlaufen, sie versuchen, die Konsequenzen für den Ablauf dieses Monsterprozesses auf kaltem Wege zu negieren. Dieses Verhalten kann für einen vernünftigen Angeklagten nichts anderes bedeuten, als daß die abgelehnten Richter unter dem Druck großer Teile der Massenmedien die zügige Verfahrensabwicklung zum obersten Ziel erheben, die Teilnahme der Angeklagten, deren wirksame Verteidigung als lediglich lästiges Anhängsel betrachten und jenseits aller rechtlichen Verfahrensgarantien das Verfahren durchziehen wollen.
-Gerichtsreferendar Dr. Temming übergab den Befangenheitsantrag als Anlage 2 zu Protokoll-.
Vors.:
Will sich die Bundesanwaltschaft sofort zur Frage der Zulässigkeit äußern?
RA v[on ]P[lottnitz]:
Darf ich vorher erklären, ob man sich anschließen will oder nicht.
Vors.:
Ja, ich habe auf Wortmeldungen gewartet. Ich möchte Sie nicht auffordern dazu, aber bitte, wenn es jetzt um Anschlußerklärungen geht, dann bitte ich die Wortmeldung der Bundesanwaltschaft nochmals zurückstellen zu dürfen. Bitte.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ja, ich hab mich zunächst für den Herrn Raspe dem Gesuch anzuschließen[nn], wegen der Begründung verweise ich auf das, was bereits gesagt worden ist. Ein Wort nur zum Zeitpunkt der Stellung dieses Gesuches. Der Kollege Dr. Temming hatte heute vormittag ja beantragt, eine Pause, um die Konsequenzen [2306-2308][67] [2309] des Beschlusses, der vom Senat verkündet worden war, mit seiner Mandantin erörtern zu können. Diese Pause war uns verwehrt worden. Wir haben erst jetzt in der Mittagspause Gelegenheit gehabt, mit den Mandanten über das, was sich aus dem Beschluß des Senates ergibt. Der Zeitpunkt der Stellung dieses Ablehnungsgesuches ist damit erklärt.
Vors.:
Sonstige Erklärungen seitens der Herrn Verteidiger.
Herr Dr. Heldmann.
RA Dr. H[eldmann]:
Die Begründung dieses Ablehnungsgesuchs halte ich für so überzeugend, daß ich mich diesem Antrag anschließe.
Vors.:
Frau Rechtsanwältin Becker.
RA’in B[ecker]:
Ich schließe mich dem Antrag des Kollegen Temming an und beziehe mich zur Glaubhaftmachung[68] auf die dienstlichen Äußerungen der abgelehnten Richter, sowie auf das Verhandlungsprotokoll. Als weiteren Ablehnungsgrund für Frau Ensslin trage ich vor, daß der Vorsitzende bei der Antragsbegründung durch Herrn Temming nach den ersten beiden Sätzen zu Herrn Dr. Foth das Wort „Prozeßverschleppung“ gesagt hat. Darin ist ein weiterer Ablehnungsgrund zu sehen, weil das Urteil, ehe dieser Antrag überhaupt begründet ist, offenbar schon feststeht. Zur Glaubhaftmachung berufe ich mich auf die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden Richters.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ich darf mich insoweit auch anschließen. Das ist ja eine neue Tatsache, die ich soeben aus den Ausführungen der Kollegin erfahre. Ich stütze also das Ablehnungsgesuch für den Herrn Raspe ausdrücklich auch auf den Vorgang, der von der Kollegin Becker geschildert worden ist und beziehe mich wegen der Glaubhaftmachung sämtlicher zur Begründung des Gesuchs vorgetragener Tatsachen, derjenigen, die der Kollege Dr. Temming vorgetragen hat, also auch der zuletzt genannten, auf die Sitzungsniederschrift vom heutigen Vormittag und auf dienstliche Äußerungen der abgelehnten Richter.
[2310] Referendar Dr. T[emming]:
Ich schließe mich hinsichtlich des neuen Grundes ebenfalls an und möchte allerdings noch hervorheben, daß das nur zu deutlich zeigt, daß das Gericht gewillt ist, seine Praxis weiter durchzuführen.
Vors.:
Die Bundesanwaltschaft bitte.
OStA Z[eis]:
Die Bundesanwaltschaft beantragt, den Antrag gem. § 26a Abs.[ 1] Ziffer 3 StPO[69] als unzulässig zurückzuweisen. Der Ausschluß der Angeklagten war durch ihr Verhalten am gestrigen Tage gerechtfertigt, darüber kann es überhaupt gar keine Diskussion geben. Daraus kann ein vernünftiger, ich wiederhole, ein vernünftiger Angeklagter niemals auf die Befangenheit der Richter schließen. Was mit dem Antrag verfolgt werden soll ist klar, es ist mit Händen zu greifen. Abermals mit dem 13. Antrag soll die Ablehnung, soll hier offensichtlich nur dazu dienen, das Verfahren weiterhin zu verzögern. Im übrigen versagt es sich die Bundesanwaltschaft auf die starken Worte des Herrn Gerichtsreferendars einzugehen.
Referendar Dr. T[emming]:
Ich möchte ...
Vors.:
Ist es notwendig, daß Sie jetzt noch erwidern ...
Referendar Dr. T[emming]:
Ich möchte darauf erwidern. Ich möchte darauf hinweisen, daß es nicht, was offenbar für den Vertreter der Bundesanwaltschaft nicht verständlich ist, daß es nicht um den Ausschluß gestern ging, sondern um den Ausschluß heute. Es geht weniger um § 177 GVG, Herr Bundesanwalt, sondern es geht um § 231b StPO. Es geht um die Berechtigung des Ausschlusses heute. Dazu haben Sie allerdings nichts gesagt. Sie können auch nichts dazu sagen.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt von Plottnitz.
RA v[on ]P[lottnitz]:
Ich wollte nur darauf hinweisen, der Herr Oberstaatsanwalt Dr. Zeis sollte gegebenenfalls etwas besser zuhören, wenn Bundesanwalt Dr. Wunder etwas äußert. Der Bundesanwalt Dr. [2311] Wunder hat ja im Tenor heute früh selbst zu erkennen gegeben, daß er eigentlich der gleichen Auffassung ist, wie der Kollege Dr. Temming hier in der Begründung unter anderem vorgetragen hat. Das ist nämlich um eine ergänzungsbedürftige Strafprozeßordnung insoweit geht, als gegen den Willen von Angeklagten, die sich aus gesundheitlichen Gründen an der weiteren Teilnahme an der Sitzung gehindert sehen, deren Anwesenheit erzwungen wird.
Vors.:
Herr Rechtsanwalt Schily.
RA Sch[ily]:
Ich möchte nur unterstreichen die Ausführungen von Herrn Zeis, der sich hier herstellt und sagt, über bestimmte Themen in diesem Verfahren kann es gar keine Diskussion geben, kann es keine Diskussion geben. Das ist wiederum eine Formel in anderer Ausdrucksweise, wie sie die Bundesanwaltschaft seit Beginn dieses Prozesses praktiziert.
Vors.:
Ich bitte die Prozeßbeteiligten um 3 Uhr wieder im Saale anwesend zu sein. Da wird über den weiteren Fortgang des Verfahrens Mitteilung gemacht werden. Es läßt sich noch nicht voraussehen, in welcher Weise das geschehen wird. Ich bitte aber, auch im Hinblick darauf, daß eine rein prozessuale Entscheidung ergehen könnte für diesen Fall gleich Publikum wieder zuzulassen, nur vorsorglich.
Das Gericht zieht sich um 14.25 Uhr zur Beratung zurück.
Ende von Band 115
[2312][70] [2313][71] [2314][72] [2315][73] [2316-2317][74] [2318][75] [2319][76]
[1] Die amtliche Bestellung allgemeiner Vertreter/innen erfolgt nach § 53 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) in Fällen längerer Abwesenheit oder im Voraus für alle Verhinderungsfälle in einem bestimmten Zeitraum. Dem/der amtlich bestellten Vertreter/in stehen nach § 53 Abs. 7 BRAO die gleichen anwaltlichen Befugnisse wie der vertretenen Person zu. Nach § 53 Abs. 3 Satz 2 BRAO a.F. konnte die Landesjustizverwaltung auch Referendar/innen, die seit mindestens 12 Monaten im Vorbereitungsdienst beschäftigt waren, zu allgemeinen Vertreter/innen bestellen (heute § 53 Abs. 4 Satz 2, wobei die Bestellung inzwischen nicht mehr durch die Landesjustizverwaltung erfolgt, sondern durch die Rechtsanwaltskammer).
[2] Die Angeklagten wurden während des vorigen Verhandlungstages wegen fortgesetzter Störung der Hauptverhandlung nach § 177 GVG i.V.m. § 231b Abs. 1 StPO zum ersten Mal über den Sitzungstag hinaus, nämlich auch für den nächsten Sitzungstag, von der Hauptverhandlung ausgeschlossen (S. 2239 des Protokolls der Hauptverhandlung, 27. Verhandlungstag).
[3] Nach einem Ausschluss wegen ordnungswidrigen Verhaltens (§ 177 GVG) kann die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten fortgesetzt werden, wenn das Gericht ihre Anwesenheit nicht für unerlässlich hält und solange zu befürchten ist, daß die Anwesenheit der Angeklagten den Ablauf der Hauptverhandlung in schwerwiegender Weise beeinträchtigen würde (§ 231b Abs. 1 StPO).
[4] Anlage 1 zum Protokoll vom 21.08.1975: Vertretungsanzeige des Rechtsanwalts Riedel nebst amtlicher Bestellung des Rechtsreferendars Dr. Temming.
[5] Bereits die „erste“ Gegenvorstellung ist als Rechtsbehelf nicht in der Strafprozessordnung vorgesehen, allerdings in Rechtsprechung und Literatur überwiegend anerkannt. Sie beinhaltet die formlose Aufforderung, über eine getroffene Entscheidung erneut zu befinden und die Entscheidung aufzuheben oder abzuändern (Hoch, in Satzger/Schluckebier/Widmaier [Hrsg.], Strafprozessordnung, 4. Aufl. 2020, Vor §§ 296 ff. Rn. 39 ff.). Gegen den eine Änderung der getroffenen Entscheidung ablehnenden Bescheid ist ein Rechtsbehelf nicht statthaft; der Bescheid ist nicht anfechtbar (Frisch in Wolter [Hrsg.], Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung, Band 6, 5. Aufl. 2016, Vor §§ 296 ff. Rn. 35; Jesse in Löwe/Rosenberg [Begr.], Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 7/1, 26. Aufl. 2013, Vor § 296 Rn. 86; Radtke, in Radtke/Hohmann [Hrsg.], Strafprozessordnung, 1. Aufl. 2011, § 296 Rn. 13; a.A. Matt, MDR 1992, S. 820, 824 f., der aufgrund der Bedeutung des Strafverfahrens für den Angeklagten ein differenzierteres Vorgehen verlangt und dementsprechend zwischen „neuem Tatsachenvorbringen und ausschließlich rechtlich begründeter Gegenvorstellung“ unterscheidet. Würden in der Gegenvorstellung neue Tatsachen und Beweise vorgebracht, so müsse das Gericht „durch anfechtbaren Beschluss förmlich entscheiden“.
[6] Die Revision ist ein Rechtsmittel gegen Urteile, mit welchem Rechtsfehler, d.h. die Nicht- oder Falschanwendung einer Rechtsnorm, gerügt werden können (§ 337 StPO). In der Regel muss zudem dargelegt werden, dass das Urteil gerade auf diesem Rechtsfehler beruht („relative Revisionsgründe“), dass also nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei korrekter Anwendung der Rechtsnorm eine andere Entscheidung ergangen wäre (Gericke, in Hannich [Hrsg.], Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 337 Rn. 33 ff.). Anders ist dies bei den absoluten Revisionsgründen, die in § 338 StPO aufgezählt sind. Die dort genannten Fehler gelten als so schwerwiegend, dass das Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist. Nach § 338 Nr. 5 liegt ein solcher absoluter Revisionsgrund vor, „wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit [...] einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat“. Hierunter fällt auch die fehlerhafte Anwendung des § 231b StPO (Meyer-Goßner, in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Aufl. 2020, § 338 Rn. 40).
[7] Dieser Grundsatz beinhaltet das Verbot widersprüchlichen Verhaltens und wird als Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) gewertet (Schubert, in Säcker/Rixecker/Oetker/Limperg [Hrsg.], Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 2, 8. Aufl. 2019, § 242 Rn. 314).
[8] Da die vollständige Verhandlungsfähigkeit - d.h. die Fähigkeit, „in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen“ (BGH, Beschl. v. 8.2.1995 - Az.: 5 StR 434/94, BGHSt 41, S. 16, 18) - der Angeklagten durch die Verteidigung seit Beginn der Hauptverhandlung immer wieder bestritten wurde, beauftragte das Gericht mit Beschluss vom 18.7.1975 eine Kommission aus Sachverständigen verschiedener Fachrichtungen mit der Begutachtung der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten (zur Chronologie der Beauftragungen der verschiedenen Gutachter s. die Ausführungen des Rechtsanwalts von Plottnitz am 26. Verhandlungstag, S. 2093 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung). In einem vorläufigen Gutachten nahmen die Sachverständigen Prof. Dr. Müller und Prof. Dr. Schröder eine eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten an, nämlich für täglich nicht mehr als drei Stunden (S. 2169 f. des Protokolls der Hauptverhandlung, 27. Verhandlungstag).
[9] Die Strafprozessordnung sieht eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht der Angeklagten vor (§ 231 Abs. 1 StPO). Neben der Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten im Falle ordnungswidrigen Verhaltens (§ 177 GVG i.V.m. § 231b StPO) gibt es in der ersten Instanz allerdings weitere Ausnahmen: § 231 Abs. 2 StPO ermöglicht eine Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten, wenn sie über die Anklage bereits vernommen worden sind, trotz Hinweises in der Ladung auf der Möglichkeit der Verhandlung in Abwesenheit eigenmächtig der Hauptverhandlung fernbleiben und das Gericht die Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet. Werden nur geringe Strafen erwartet, kann unter bestimmten Voraussetzungen nach § 232 StPO in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt werden, oder sie können nach § 233 StPO auf Antrag vom Erscheinen entbunden werden. Schließlich ist nach § 231a StPO unter bestimmten Voraussetzungen die Verhandlung in Abwesenheit gegen verhandlungsunfähige Angeklagte möglich, die sich selbst vorsätzlich und schuldhaft in diesen Zustand versetzt haben.
[10] Der Vorsitzende Dr. Prinzing teilte den Verfahrensbeteiligten mit, dass ihm auf telefonische Nachfrage, wie die Zeitangabe „drei Stunden“ zu verstehen sei, die Auskunft erteilt worden sei, dass die reine Verhandlungszeit ohne Pausen und Unterbrechungen gemeint sei (S. 2169 f. des Protokolls der Hauptverhandlung, 27. Verhandlungstag). Diese Mitteilung sorgte für einige Diskussion. Der Antrag der Verteidigung, die Sachverständigen zu laden, um sie in der Hauptverhandlung dazu befragen zu können, wurde abgelehnt (S. 2192 ff., 2210 des Protokolls der Hauptverhandlung, 27. Verhandlungstag).
[11] S. dazu auch die Ausführungen des Rechtsanwalts Dr. Heldmann auf S. 2040 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung (24. Verhandlungstag).
[12] Sachleitungsbezogene Anordnungen des/der Vorsitzenden können als unzulässig beanstandet werden (§ 238 Abs. 2 StPO). Über die Beanstandung entscheidet sodann das Gericht, in diesem Fall der Senat in voller Besetzung.
[13] Nach Nr. 75 der Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) kann gegen Anordnungen der Anstaltsleitung Beschwerde vor Gericht erhoben werden (Abs. 1) oder - wenn die Zuständigkeit des Gerichts nach § 119 Abs. 6 StPO a.F. (heute § 119 Abs. 5 StPO) nicht gegeben ist - Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden, wenn die inhaftierte Person geltend macht, durch die Maßnahme (oder Ablehnung bzw. Unterlassen einer Maßnahme) in seinen/ihren Rechten verletzt zu sein (Abs. 3). Zuständig für die Entscheidung ist ab dem Zeitpunkt der Erhebung der öffentlichen Klage das Gericht der Hauptsache (§ 126 Abs. 2 StPO).
[14] § 260 Abs. 3 StPO lautet: „Die Einstellung des Verfahrens ist im Urteil auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht.“
[15] Art. 6 EMRK enthält das Recht auf ein faires Verfahren. Dazu gehören u.a. der Anspruch auf den gesetzlichen Richter, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts, die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens und der Verkündung des Urteils (Abs. 1), die Unschuldsvermutung (Abs. 2) sowie einige grundlegende Verteidigungsrechte (Abs. 3).
[16] Am 2. Juni 1972 wurde aufgrund einer Bombendrohung die Stuttgarter Innenstadt gesperrt. In einem Schreiben unbekannter Herkunft war zuvor ein Sprengstoffanschlag auf drei Autos durch „RAF-Pionier-Sprengexperten“ angekündigt worden. Die Drohung bewahrheitete sich nicht, fand jedoch große mediale Aufmerksamkeit. Die Echtheit des Schreibens wurde schon kurze Zeit später in Zweifel gezogen (Balz, in Hürter/Rusconi [Hrsg.], Die bleiernen Jahre, 2010, S. 76 f.).
[17] Anlässlich einer gestohlenen Flasche Zyankali nährten Polizei und Bild-Zeitung im Mai 1974 Gerüchte, die RAF wolle durch eine Trinkwasservergiftung in einer deutschen Großstadt die Freilassung von Meinhof und Ensslin durchsetzen. Die Gerüchte entbehrten jedoch jeder Grundlage (Balz, in Hürter/Rusconi [Hrsg.], Die bleiernen Jahre, 2010, S. 73, 80)
[18] Massenveranstaltungen wie die Fußballweltmeisterschaft 1974 wurden nach dem Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 als besonders sensible Ereignisse wahrgenommen. In diesem Zusammenhang häuften sich spekulative Meldungen, wie die über einen geplanten Raketenangriff der RAF auf das Hamburger Volksparkstadion (Balz, Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, 2008, S. 192).
[19] Am 6. Dezember 1974 kam es zu einer Explosion im Bremer Hauptbahnhof, bei der sechs Menschen schwer verletzt wurden. Während des folgenden Jahres explodierten auch in Hamburg, Köln und Nürnberg Bomben in Bahnhöfen. Tageszeitungen wie BILD und die Welt erkannten darin Aktionen der radikalen Linken. Die RAF und andere Gruppen hingegen distanzierten sich ausdrücklich von „Aktionen gegen das Volk“. Die Anschlagsserie blieb unaufgeklärt (Balz, Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, 2008, S. 189 f., S. 194).
[20] Zwei angeblich aus einem Bundeswehrdepot verschwundene Senfgasflaschen lösten im Mai 1975 Spekulationen über einen Giftgas-Angriff der RAF aus. Als Folge dieser von zahlreichen Tageszeitungen aufgegriffenen Meldung erließ z.B. die Bundestagspräsidentin eine Besuchersperre im Bundestag. Später wurde jedoch festgestellt, dass gar keine Flaschen entwendet worden waren (Balz, in Hürter/Rusconi [Hrsg.], Die bleiernen Jahre, 2010, S. 79; Balz, Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat, 2008, S. 191).
[21] Im Februar 1942 erklärte der Leiter des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“ Joseph Goebbels auf einer Pressekonferenz, dass der Begriff des Partisanen durch den des Banditen zu ersetzen sei. Damit sollte die Darstellung bzw. Wahrnehmung osteuropäischer Partisanen als Helden oder Märtyrer verhindert werden, die seit Anfang 1942 in größerer Zahl und verbesserter Organisation auf sowjetischen Gebieten gegen die nationalsozialistischen Besatzer kämpften (Boelcke [Hrsg.], Wollt ihr den totalen Krieg?, 1989, S. 219; Richter, „Herrenmensch“ und „Bandit“, 1998, S. 67 f.).
[22] Der damalige Vorsitzende der CSU, Franz Josef Strauß, hielt am 19. November 1974 im bayerischen Sonthofen eine (auch in der Partei selbst) umstrittene Rede. Neben den hier zitierten Sympathisanten-Vorwürfen erregte vor allem Strauß’ Ansicht die Gemüter, wonach die Union als damalige Oppositionspartei bis zur anstehenden Bundestagswahl keine weiteren politischen Vorschläge einbringen sollte, um damit der mit zahlreichen Problemen konfrontierten sozialliberalen Regierung beim Scheitern zuzusehen. Bekannt wurde die Rede, die Strauß im Rahmen einer parteiinternen Klausurtagung gehalten hatte, durch die Publikation des Magazins DER SPIEGEL wenige Monate später (Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 2017, S. 830; Möller, Franz Josef Strauß, 2015, S. 490 ff.).
[23] Der Jurist Karl Vialon (1905-1990) trat 1937 ins Reichsfinanzministerium ein. Während des Zweiten Weltkriegs übernahm er u.a. die Leitung der Finanzabteilung des „Reichskommissariats Ostland“. Hier war er mit der „Sicherung der jüdischen Vermögenswerte“ betraut, sprich: mit Enteignung und Übernahme des Eigentums deportierter und/oder ermordeter Juden und Jüdinnen. Nach kurzer US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft setzte Vialon 1950 im Bundesfinanzministerium seine Karriere fort. Nach einer Zwischenstation im Bundeskanzleramt war er bis 1967 Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. In einem Strafverfahren gegen einen SS-Führer als Zeuge befragt, gab Vialon an, nichts von der Ermordung der jüdischen Bevölkerung gewusst zu haben, auch im Hinblick auf seine eigene Tätigkeit gab er sich unwissend. Belastendes Material wurde aus der DDR an westdeutsche Gerichte gegeben, die Vialon allerdings vom Vorwurf des Meineids freisprachen („Vialon, Friedrich Karl“, in Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv, abrufbar unter http://www.munzinger.de/document/00000009133, zuletzt abgerufen am 24.09.2021).
[24] Wie Vialon war auch Hans Globke (1898-1973) Teil der Funktionselite, die über den Umbruch von 1945 hinweg ihre Laufbahn weiterverfolgen konnte. Der Jurist trat am 1929 ins preußische Innenministerium ein, das 1934 mit dem Reichsinnenministerium fusioniert wurde. Bis 1945 war er u.a. beteiligt an Gesetzgebung und Gesetzeskommentierung zur Ausgrenzung und Verfolgung deutscher Staatsbürger:/nnen jüdischer Herkunft; er war Ko-Autor des ersten Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935. Seine Arbeiten zur Erfassung der jüdischen Bevölkerung bereiteten deren Ausgrenzung, Deportierung und schließlich Vernichtung vor. NSDAP-Mitglied wurde er aufgrund parteiinterner Bestimmungen nicht. Seine Kontakte zum konservativen Widerstand führten nach Kriegsende dazu, dass er in seinem Entnazifizierungsverfahren 1947 als „unbelastet“ eingestuft wurde. Zügig setzte Globke seine Karriere als Ministerialbeamter fort, 1953 wurde er beamteter Staatssekretär (und damit Leiter) des Kanzleramts. Sein politischer Einfluss auf die Politik des Bundeskanzlers Konrad Adenauer war ganz erheblich. Globkes Tätigkeit während der NS-Zeit wurde bereits in den frühen 1950er Jahren kritisiert. Ein Ermittlungsverfahren aufgrund einer möglichen Mitwirkung Globkes an der Deportation griechischer Juden wurde 1961 von der Bonner Staatsanwaltschaft eingestellt. Allerdings veranlasste die SED 1963 einen Schauprozess gegen Globke in der DDR, wo er (in Abwesenheit) zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Skandalisiert wurde ab Beginn der 1960er Jahre auch in der Bundesrepublik Globkes Kommentierung der Rassegesetze. Eine entsprechende Buchpublikation mit belastenden Dokumenten durch Reinhard Strecker suchte Globke gerichtlich zu verhindern, der BND übte Druck auf den Verlag aus, der den Band schließlich zurückzog. Seiner Karriere tat dies keinen Abbruch; Globke wurde überdies mit zahlreichen staatlichen Ehrungen ausgezeichnet (Lommatzsch, Hans Globke [1898-1973], 2009).
[25] Am 27. Juni 1975 bewachten mehrere hundert Polizisten das Hauptgebäude der Universität Oldenburg, während Handwerker den Schriftzug „Carl von Ossietzky-Universität“ entfernten. Angebracht hatten ihn einige Monate zuvor Studierende der Universität, die damit dem universitätsinternen Beschluss zur Benennung der Universität nach dem Friedenskämpfer Ossietzky Ausdruck verleihen wollten. Das niedersächsische Wissenschaftsministerium lehnte die Namensgebung jedoch ab und initiierte den Polizeieinsatz. Einen Tag später, am 28. Juni 1975, erneuerten Studierende den Schriftzug wieder (Rheude, Kalter Krieg um Ossietzky, 2009, S. 11 ff., 50 f., 71).
[26] Die Afroamerikanerin Joan Little war 20 Jahre alt, als sie von einem Gericht in Beaufort County, North Carolina, zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Einbruchs verurteilt wurde. 81 Tage nach dem Urteil wurde der zuständige Gefängniswärter Clarence Alligood während seiner Nachtschicht erstochen in ihrer Gefängniszelle aufgefunden. Little war geflohen, stellte sich jedoch einige Tage später bei der Polizei und gab an, aus Notwehr gegen einen sexuellen Übergriff Alligoods’ gehandelt zu haben. Gegen sie wurde ein Strafverfahren vor der Beaufort County Grand Jury eröffnet. Mit dem Argument, dass es in Beaufort County nicht möglich sei, unvoreingenommene Jurymitglieder zu finden, beantragten Littles Anwälte, den Prozess an einem anderen Ort durchzuführen. Der Strafprozess wurde schließlich vor einem Gericht in Raleigh, North Carolina, durchgeführt. Little wurde von der Jury freigesprochen (Reston Jr., The New York Times, 6.4.1975, S. 240 ff.; Tivnan, The New York Times, 16.11.1975, S. 272 ff.).
[27] Nach § 353d Nr. 3 StGB macht sich strafbar, wer „die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist“.
[28] Seit dem 1.1.1975 ist der rechtfertigende Notstand in § 34 StGB normiert; bereits zuvor fanden die Grundsätze im Rahmen des sog. übergesetzlichen Notstandes Anwendung. Nicht rechtswidrig handelt danach, „[w]er in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden [...], wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Ob und in welchem Umfang dieser Rechtfertigungsgrund auf hoheitliche Handlungen anwendbar ist, ist umstritten. Die Anwendbarkeit wird jedenfalls verneint, soweit bestimmte Interessenkollisionen zwischen Staat und Bürger/in in Form von staatlichen Eingriffsbefugnissen bereits durch speziellere Normen geregelt sind. Fehlen entsprechende Eingriffsbefugnisse, oder sind die vorhandenen als nicht abschließend einzustufen, wird ein Rückgriff hierauf überwiegend nicht ausgeschlossen (BGH, Beschl. v. 23.9.1977 - Az.: 1 BJs 80/77 - StB 215/77, BGHSt 27, S. 260, 262 f.; Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil Band 1, 5. Aufl. 2020, § 16 Rn. 103; a.A. Zieschang, in Hohn/Rönnau/Zieschang [Hrsg.], Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 3, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 7 ff.).
[29] Adolf Arndt legte im Jahre 1933 sein Amt als Strafrichter am Landgericht III in Berlin aus Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie nieder und kam damit wohl einer drohenden Amtsenthebung zuvor, da er von den Nationalsozialisten wurde als „Halbjude“ eingestuft wurde. Anschließend arbeitete er als Anwalt in der Kanzlei des sozialdemokratischen jüdischen Anwaltes Kurt Schumacher. Als dieser nach Kriegsende Parteivorsitzender der SPD wurde, trat Arndt ebenfalls in die SPD ein. Ab dem Herbst des Jahres 1945 beteiligte sich Arndt am Wiederaufbau des hessischen Rechtsstaates und setzte sich dafür ein, den politischen Parteien eine verfassungsrechtliche Stellung zuzuerkennen. Arndt - selbst Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates - vertrat anwaltlich viele Opfer des NS-Regimes in Wiedergutmachungsprozessen. Die Verbrechen der Nationalsozialisten bezeichnete er als gemeine Verbrechen und sprach diesbezüglich von einer nicht justiziablen Schuld (Goosewinkel, in Gallus/Schildt [Hrsg.], Rückblickend in die Zukunft, 2011, S. 413, 415 ff.).
[30] Anfang der 70er Jahre wurde in den USA ein Strafprozess gegen Dr. Daniel Ellsberg geführt. In diesem Verfahren wurde Ellsberg wegen 12-facher Spionage, Verschwörung und Diebstahls der sogenannten Pentagon-Papiere angeklagt. Die Pentagon-Papiere waren Aufzeichnungen einer geheimen Studie des US-Verteidigungsministeriums über die Beteiligung der USA am Vietnamkrieg, die Ellsberg der New York Times zuspielte, und die am 13. Juni 1971 veröffentlicht wurden. Unter anderem dafür musste sich Ellsberg im Jahre 1973 vor der US-Justiz verantworten. Am 89. Verhandlungstag, dem 11. Mai 1973, deklarierte der Richter William Matthew Byrne Jr. jedoch einen sogenannten „mistrial“, sodass der Prozess wegen schwerwiegender Verfahrensfehler eingestellt werden musste. Die US-Regierung soll zwischen Ende 1969 und Anfang 1970 illegale Abhörungen von Ellsbergs Telefongesprächen veranlasst und diese Aufzeichnungen und Protokolle danach verschwinden lassen haben. Außerdem sollen am 3. September 1971 Agenten des Weißen Hauses in die Praxis von Ellsbergs Psychiater eingebrochen sein. Richter William Matthew Byrne Jr sah darin ein so starkes Fehlverhalten der Regierung („Government misconduct“), dass er ein faires und unvoreingenommenes Urteil einer Jury für ausgeschlossen hielt. Mit dieser Begründung schloss er auch aus, dass gegen Ellsberg wegen dieser angeklagten Straftaten jemals wieder ein neuer Prozess aufgerollt werden durfte (Arnold, The New York Times, 12.12.1972, S. 32).
[31] United States v. Banks, 383 F. Supp. 389 (D.S.D. 1974).
[32] Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG lautet: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.“ Das Bundesverfassungsgericht führte hierzu 1995 aus: „Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Gefahr vorbeugen, daß die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Es soll vermieden werden, daß durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflußt werden kann, gleichgültig, von welcher Seite eine solche Manipulation ausgeht [...]. Damit soll die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden [...]. Dieses Vertrauen nähme Schaden, müßte der rechtsuchende Bürger befürchten, sich einem Richter gegenüberzusehen, der mit Blick auf seinen Fall und seine Person bestellt worden ist“ (BVerfG, Beschl. v. 8.4.1997 - Az.: 1 PBvU 1/95, BVerfGE 95, S. 322, 327).
[33] Die Verteidigung rügte die Besetzung des Gerichts, insbesondere die Besetzung der Position des Vorsitzenden mit Dr. Prinzing und äußerte die Vermutung, dieser sei durch die Staatsschutzbehörden ausgewählt worden, um das Verfahren in Stammheim zu führen; die eigentlich besetzte - allerdings wohl nicht mit dem geeigneten Kandidaten - Stelle sei dafür eigens freigeschaffen worden. Siehe hierzu den Antrag des Rechtsanwalts Schily auf Einstellung des Verfahrens (Anlage 2 zum Protokoll vom 5.6.1975, S. 123 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, 2. Verhandlungstag), sowie die Ablehnung des Vorsitzenden als Befangen am 7. Verhandlungstag (Teil II der Anlage 1 zum Protokoll vom 19.6.1975, S. 44 ff. der Anlage). Zur dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden Dr. Prinzing s. S. 681 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, ebenfalls 7. Verhandlungstag.
[34] Zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens s. die Ausführungen des Rechtsanwalts Dr. Heldmann am 11. Verhandlungstag, S. 837 f. des Protokolls der Hauptverhandlung
[35] Um die „Terroristenprozesse“ der 1970er Jahre rankte sich eine Reihe von Strafrechts- und Strafverfahrensreformen. Am 1. Januar 1975 traten das Erste Strafverfahrensreformgesetz vom 9. Dezember 1974 (BGBl. I, S. 3393) sowie das Ergänzungsgesetz hierzu vom 20. Dezember 1974 (BGBl. I, S. 3686) in Kraft. Da viele der Änderungen im Hinblick auf das anstehende Stammheimer Verfahren beschlossen wurden, wurden sie u.a. als „lex RAF“ kritisiert (Bakker Schut, Stammheim, 2. Aufl. 2007, S. 132 ff.). Während des Verfahrens folgten das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes vom 18. August 1976 (BGBl. I, S. 2181), sowie das Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz vom 30. September 1977 (BGBl. I, S. 1877; sog. Kontaktsperregesetz). Nach Beendigung des Verfahrens traten schließlich noch das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung vom 14. April 1978 (BGBl. I, S. 497), sowie das Strafverfahrensänderungsgesetzt 1979 vom 5. Oktober 1978 (BGBl. I, S. 1645) in Kraft.
[36] Die §§ 138a ff. StPO enthalten Vorschriften über den Ausschluss von Verteidiger/innen von der Mitwirkung im Verfahren. Eine gesetzliche Grundlage war erforderlich geworden, nachdem das Bundesverfassungsgericht den vorigen Ausschluss des Rechtsanwalts Schily mangels Rechtsgrundlage für verfassungswidrig erklärt hatte (BVerfG, Beschl. v. 14.2.1973 - Az.: 2 BvR 667/72, BVerfGE 34, S. 293 ff.). Die neu eingeführte Vorschrift § 138a StPO hatte vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand (BVerfG, Vorprüfungsausschuss, Beschl. v. 4.7.1975 - Az.: 2 BvR 482/75, NJW 1975, S. 2341).
[37] Bis zur Reform ließ § 146 Abs. 1 StPO a.F. noch die kollektive Verteidigung mehrerer Beschuldigter bei gleicher Interessenlage zu. Mit der Neufassung des § 146 StPO wurde das Verbot der Mehrfachverteidigung eingeführt: „Die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch einen gemeinschaftlichen Verteidiger ist unzulässig.“ Nach zwischenzeitlichen Klarstellungen des zu Auslegungsschwierigkeiten führenden Wortlautes lautet § 146 StPO heute: „Ein Verteidiger kann nicht gleichzeitig mehrere derselben Tat Beschuldigte verteidigen. In einem Verfahren kann er auch nicht gleichzeitig mehrere verschiedener Taten Beschuldigte verteidigen.“
[38] § 257 StPO wurde durch das Ergänzungsgesetz zum Ersten Strafverfahrensreformgesetz vom 20.12.1974 (BGBl. I, S. 3686) neu gefasst. Die zuvor in § 257a StPO enthaltene Vorschrift gab der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft dem Wortlaut nach ein zeitlich und inhaltlich unbeschränktes Erklärungsrecht. Vereinzelt wurde zwar vertreten, dass die Einschränkung des § 257 StPO a.F., welcher das Erklärungsrecht von Angeklagten zumindest zeitlich an vorangegangene Beweismittel knüpfte, auf das Erklärungsrecht nach § 257a StPO übertragen werden müsse; überwiegend wurde dies aber aufgrund des unbeschränkten Wortlautes abgelehnt (s. dazu Gollwitzer, in Löwe/Rosenberg [Begr.], Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 2, 22. Aufl. 1973, § 257a Anm. 1 ff.). Mit der Neufassung wurden die Erklärungsrechte sowohl der Angeklagten, als auch der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft, inhaltlich und zeitlich auf vorangegangene Beweismittel beschränkt.
[39] Die Verteidigung kritisierte des Öfteren die ihrer Ansicht nach falsche Anwendung von Normen der StPO durch das Gericht (s. die früheren Ausführungen des Rechtsanwalts Schily: „Mir scheint, es ist der erste Strafsenat nach folgender Maxime vorgegangen: Freigeschöpftes, privatgeschöpftes Stammheimer Landrecht bricht Bundesrecht“, 2. Verhandlungstag, S. 101 des Protokolls der Hauptverhandlung; s. auch Rechtsanwalt Riedel am 167. Verhandlungstag: „die Würde des Menschen ist unantastbar, ausgenommen sind Verfügungen des 2. Strafsenats beim Oberlandesgericht Stuttgart“, S. 12978 des Protokolls der Hauptverhandlung).
[40] Nach § 245 StPO a.F. war die Ablehnung präsenter Beweismittel nur möglich, wenn die Beweiserhebung unzulässig oder nur zum Zwecke der Prozessverschleppung beantragt wurde. Für präsente Beweismittel bestand daher eine verstärkte Beweiserhebungspflicht des Gerichts (Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 32. Aufl. 1975, § 245 Anm. 1). Mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz vom 5. Oktober 1978 (BGBl. I, S. 1645) wurde § 245 StPO schließlich neugefasst. Mit der Neufassung erhielt das Gericht die Möglichkeit, den Beweisantrag auch dann abzulehnen, wenn die zu beweisende Tatsache bereits bewiesen oder offenkundig ist, zwischen ihr und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Zusammenhang besteht, oder das Beweismittel völlig ungeeignet ist. Insbesondere der fehlende Zusammenhang ermöglichte dem Gericht erstmals eine inhaltliche Bewertung des präsenten Beweismittels, die ihm zuvor untersagt war. Inzwischen wurde die Erstreckung der Beweisaufnahme auf präsente Beweismittel von einem vorherigen Beweisantrag abgängig gemacht, welcher in seinen Ablehnungsgründen denen für absente Beweismittel weiter angenähert wurde (§ 245 Abs. 2 StPO).
[41] Die Schaffung einer speziellen gesetzlichen Kronzeugenregelung wurde zum damaligen Zeitpunkt zwar diskutiert, erfolgte aber zunächst nicht. Während bereits mit Gesetz vom 28.7.1981 (BGBl. I, S. 681) eine Kronzeugenregelung für Betäubungsmitteldelikte geschaffen wurde (§ 31 BtMG), geschah dies erst 1989 auch für terroristische Straftaten (BGBl. I, S. 1059, 1061). Diese Regelung trat jedoch zum 1.12.1999 wieder außer Kraft. Erst seit dem 1.9.2009 gibt es im deutschen Strafrecht mit § 46b StGB eine allgemeine Kronzeugenregelung (eingeführt durch das 43. Strafrechtsänderungsgesetz vom 29.7.2009, BGBl. I, S. 2288).
[42] § 112 StPO beinhaltet die Haftgründe, bei deren Vorliegen Untersuchungshaft angeordnet werden darf. Während in Abs. 2 konkrete Gründe aufgezählt, die die Durchführung eines Strafverfahrens beeinträchtigen könnten, nämlich Flucht (Nr. 1), Fluchtgefahr (Nr. 2), sowie Verdunkelungsgefahr (Nr. 3 lit. a-c), enthält Absatz 3 Straftatbestände, die im Falle eines dringenden Tatverdachts auch ohne Vorliegen eines gesonderten Haftgrundes die Anordnung der Untersuchungshaft ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht legt diese Vorschrift wegen eines andernfalls anzunehmenden Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzips verfassungskonform so aus, dass weitere Umstände hinzutreten müssen, welche die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme die Ahndung oder Aufklärung der Straftat eingeschränkt wäre, etwa aufgrund nicht auszuschließender Fluchtgefahr im Hinblick auf die hohe Strafandrohung der aufgezählten Straftatbestände (BVerfG, Beschl. v. 15.12.1965 - Az.: 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, S. 342, 350). Mit Gesetz vom 18. August 1976 (BGBl. I, S. 2181) wurde § 129a StGB - die Bildung terroristischer Vereinigungen - als neuer Tatbestand in das StGB eingeführt und sogleich in § 112 Abs. 3 StPO aufgenommen.
[43] § 338 Nr. 1 StPO - der absolute Revisionsgrund im Falle der vorschriftswidrigen Besetzung des Gerichts - wurde durch das Strafrechtsänderungsgesetz vom 5. Oktober 1978 dahingehend eingeschränkt, dass diese Rüge nun nur noch auf die Verletzung bestimmter Mitteilungspflichten gestützt werden kann, wenn die Mitteilung der Besetzung nach § 222a StPO gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Revision ist ein Rechtsmittel gegen Urteile, mit welchem Rechtsfehler, d.h. die Nicht- oder Falschanwendung einer Rechtsnorm, gerügt werden können (§ 337 StPO). In der Regel muss zudem dargelegt werden, dass das Urteil gerade auf diesem Rechtsfehler beruht („relative Revisionsgründe“), dass also nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei korrekter Anwendung der Rechtsnorm eine andere Entscheidung ergangen wäre (Gericke, in Hannich [Hrsg.], Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 337 Rn. 33 ff.). Anders ist dies bei den absoluten Revisionsgründen, die in § 338 StPO aufgezählt sind. Die dort genannten Fehler gelten als so schwerwiegend, dass das Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist.
[44] Der Straftatbestand des § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) wurde durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes vom 18. August 1976 (BGBl. I, S. 2181) eingeführt.
[45] § 138 StGB enthält den Straftatbestand der Nichtanzeige geplanter Straftaten. Mit Gesetz vom 18. August 1976 wurde Abs. 2 eingefügt: „Ebenso wird bestraft, wer von dem Vorhaben oder der Ausführung einer Straftat nach § 129a StGB zu einer Zeit, zu der die Ausführung noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterläßt, der Behörde unverzüglich Anzeige zu erstatten.“ In der heutigen Fassung ist der Abs. 2 noch ergänzt durch Straftaten nach § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat).
[46] Der erste Antrag auf Ausschließung eines Verteidigers wegen des Verdachts der Tatbeteiligung (§ 138a StPO) wurde am 3.3.1975 gestellt und richtete sich gegen Rechtsanwalt Dr. Croissant; am 11.3.1975 wurde der Ausschluss des Rechtsanwalts Groenewold und am 16.4.1975 schließlich der Ausschluss des Rechtsanwalts Ströbele beantragt. Die Entscheidungen des 1. Strafsenats des OLG Stuttgart ergingen am 22.4., 2.5. und 13.5.1975 (s. die Ausführungen des Rechtsanwalts Dr. Heldmann, S. 839 des Protokolls der Hauptverhandlung, 11. Verhandlungstag; s. auch die angehängte Chronik in Dreßen [Hrsg.], Politische Prozesse ohne Verteidigung?, 1976, S. 104 f.).
[47] Als Blockverteidigung wurde bis zur Reform zulässige gemeinsame Verteidigung mehrerer Beschuldigter bei gleicher Interessenlage bezeichnet. Diese wurde durch das Verbot der Mehrfachverteidigung unzulässig, was zur Folge hatte, dass die Verteidigung neu strukturiert werden musste. Jede/r Verteidiger/in durfte fortan nur noch eine/n Angeklagte/n vertreten (s. hierzu die Ausführungen des Vorsitzenden Dr. Prinzing auf den S. 229 ff., insbesondere S. 235 des Protokolls der Hauptverhandlung, 3. Verhandlungstag).
[48] Einige der sog. Vertrauensverteidiger/innen waren den Angeklagten als Pflichtverteidiger/innen beigeordnet, und zwar bis zum Inkrafttreten des Verbots der Mehrfachverteidigung zunächst antragsgemäß allen Beschuldigten gemeinschaftlich. Die Beiordnung als Pflichtverteidiger/in ist möglich in den Fällen der notwendigen Verteidigung (§ 141 StPO). Die notwendige Verteidigung ergab sich in diesem Verfahren daraus, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht stattfand (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO) und dem Vorwurf eines Verbrechens (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO; ein Verbrechen liegt vor bei einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr, § 1 Abs. 1 StGB a.F.; heute: § 12 Abs. 1 StGB), sowie der Inhaftierung der Beschuldigten für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten (§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F.; heute ist die zeitliche Vorgabe entfallen).
[49] Die angesprochene Lücke betrifft die Auslegung des § 138a StPO, auf dessen Grundlage die Verteidigerausschlüsse vor Beginn der Hauptverhandlung ergingen. Da die Verteidiger zum Zeitpunkt ihres Ausschlusses allesamt Andreas Baader vertraten, bezogen sich die Ausschlüsse auch nur auf dessen Verteidigung. Alle drei Verteidiger legitimierten sich daher am ersten Verhandlungstag für jeweils andere Angeklagte und stellten den Antrag, zur Hauptverhandlung zugelassen zu werden. Der 2. Strafsenat war der Auffassung, die Wirkung der bereits ergangenen Ausschlussentscheidungen umfasse auch das Verbot der Mitwirkung Verteidiger im Hinblick auf die übrigen Angeklagten. Die Bundesanwaltschaft äußerte gegen diese Rechtsauffassung erhebliche Bedenken (S. 50 des Protokolls der Hauptverhandlung) und beantragte daher, die Verteidiger auch im Hinblick auf die anderen Angeklagten auszuschließen (Anlage 5 vom selben Tag, S. 65 ff.).
[50] Der 2. Strafsenat legte dem zuständigen 1. Strafsenat den Antrag der Bundesanwaltschaft zur Entscheidung vor. Dieser schloss sich der ursprünglichen Auffassung des 2. Senats an, wonach der Ausschluss für das gesamte Verfahren und mithin auch für alle Angeklagten wirke. Die Durchführung eines (nach dieser Ansicht überflüssigen) Ausschlussverfahrens lehnte er ab. Inzwischen sieht § 138a Abs. 5 StPO ausdrücklich vor, dass der Ausschluss sich auch auf andere Beschuldigte in demselben Verfahren erstreckt.
[51] Sowohl die Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 Abs. 1 StPO), als auch die Beschlagnahme (§ 98 Abs. 1 StPO) stehen grundsätzlich unter dem sog. Richtervorbehalt, sind also nur bei richterlicher Anordnung zulässig. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt bei „Gefahr im Verzug“: Auch ohne richterliche Anordnung kann die Maßnahme ausnahmsweise durch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten durchgeführt werden, wenn die vorige Einholung der richterlichen Anordnung den Erfolg der Maßnahme aufgrund der Verzögerung gefährden würde (BVerfG, Urt. v. 20.1.2001 - Az.: 2 BvR 1444/00, NJW 2011, S. 121, 122).
[52] § 148 StPO a.F. (heute § 148 Abs. 1 StPO) beinhaltet den Grundsatz der freien Verteidigung: „Dem Beschuldigten ist, auch wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet, schriftlicher und mündlicher Verkehr mit dem Verteidiger gestattet.“
[53] Hans Laternser war Jurist und wurde als Verteidiger des Oberkommandos der Wehrmacht sowie der Führungsspitze des deutschen Militärs in den Nürnberger Prozessen bekannt; 1949 verteidigte er Generalfeldmarschall Erich von Manstein im Hamburger Curio-Haus. Als Verteidiger im Eichberg-Verfahren beantragte er einen Freispruch für den von ihm vertretenen Mediziner Friedrich Mennecke, der als Gutachter an den Euthanasieprogrammen des nationalsozialistischen Regimes mitgewirkt hatte. Gegen die kritische Presse wurde er von SPD-Mitglied und Jurist Adolf Arndt in Schutz genommen, der der Presse vorwarf, Mandant und Verteidiger gleichzusetzen. Aufsehen erregte Laternser auch als Verteidiger mehrerer Hauptangeklagter im Frankfurter Auschwitz-Prozess, wo er u.a. argumentierte, die von ihm verteidigten SS-Ärzte hätten als Selekteure an der Rampe in Auschwitz letztlich Leben retten wollen; Opferzeugen versuchte er als „gekaufte“ Kommunisten“ zu diskreditieren (Seliger, Politische Anwälte?, 2016, S. 250, 331 ff., 483 ff.; 496 ff.). Sein Plädoyer, das er zusammen mit weiteren Schriftsätzen unter dem Titel „Die andere Seite im Auschwitz-Prozess“ veröffentlichte, wurde durch den Rechtsanwalt Jürg Zutt als „nationalistisches Plädoyer für das Totschweigen jämmerlichen Unrechts“ bezeichnet (Zutt, Ein Verteidiger ohne Mut, DIE ZEIT, Ausgabe Nr. 22/1967 vom 2.6.1967).
[54] Rechtsanwalt Dr. Croissant wurde die Unterstützung der kriminellen Vereinigung RAF vorgeworfen, u.a. durch die Beteiligung am sog. INFO, einem Informations- und Kommunikationssystems, welches die Verteidigung entwickelt hatte um den Austausch von Rundbriefen, Zeitungsartikeln etc. unter den inhaftierten RAF-Mitgliedern zu ermöglichen. Er wurde schließlich am 16.2.1979 vom LG Stuttgart zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, zudem wurde gegen ihn ein vierjähriges Berufsverbot verhängt. Die Verurteilung wurde allerdings nicht auf das INFO an sich gestützt, sondern auf die Weiterleitung ganz bestimmter Unterlagen (Bakker Schut, Stammheim, 2. Aufl. 2007, S. 531 ff.; Pflieger, Die Rote Armee Fraktion, 3. Aufl. 2011, S. 52; s. auch die Interviews mit K. Groenewold und H.-C. Ströbele, in Diewald-Kerkmann/Holtey [Hrsg.], Zwischen den Fronten, 2013, S. 49, 58 f., 70 f. sowie S. 121, 132 f.; Pflieger, Die Rote Armee Fraktion, 3. Aufl. 2011, S. 52).
[55] Vor dem LG Kaiserslautern fand die Hauptverhandlung gegen die RAF-Mitglieder Manfred Grashof, Wolfgang Grundmann und Klaus Jünschke statt. Vorgeworfen wurden ihnen neben der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verschiedene Straftaten im Zusammenhang mit einem Banküberfall in Kaiserslautern am 22. Dezember 1971, bei dem der Polizeiobermeister Herbert Schoner erschossen wurde, sowie im Zusammenhang mit der Verhaftung von Grundmann und Grashof am 2. März 1972, bei der der Kriminalhauptkommissar Eckhart durch einen Schuss durch Grashof schwer verletzt wurde und schließlich am 22. März 1972 seinen Verletzungen erlag; dem Angeklagten Jünschke ferner die Beteiligung an der Herbeiführung der Explosion in Frankfurt am Main am 11.5.1972. Jünschke und Grashof wurden am 2.6.1977 je zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe, Grundmann zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von vier Jahren verurteilt (Pflieger, Die Rote Armee Fraktion, 3. Aufl. 2011, S. 30 ff., 322; s. zu den Tatvorwürfen und späteren Verurteilungen auch DER SPIEGEL, Ausgabe 24/77 vom 6.6.1977, S. 104).
[56] Von September 1974 bis Februar 1975 führten insgesamt 40 Gefangene, darunter die Angeklagten, den insgesamt dritten und längsten Hungerstreik durch, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren, die sie als Isolationsfolter bezeichneten (Bakker Schut, Stammheim, 2. Aufl. 2007, S. 117; die Hungerstreikerklärung ist abgedruckt in Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD, Der Kampf gegen die Vernichtungshaft, S. 14 ff.; s. zu den Haftbedingungen Bergstermann, Stammheim, 2016, S. 97 ff., insbesondere 103 ff. zum Vorwurf der Isolationsfolter; Riederer, Die RAF und die Folterdebatte der 1970er Jahre, 2014, S. 270 ff.).
[57] Holger Meins, ursprünglich Mitangeschuldigter im Stammheim-Prozess, starb noch vor Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO) am 9. November 1974 in Untersuchungshaft in Wittlich an den Folgen des dritten Hungerstreiks. Da zu diesem Zeitpunkt der Senat als Gericht der Hauptsache zuständig für den Vollzug der Untersuchungshaft und damit auch für Entscheidungen über die Haftbedingungen war (§ 126 Abs. 2 StPO), machten die Angeklagten den Senat, insbesondere den Vorsitzenden Dr. Prinzing, unmittelbar verantwortlich für den Tod von Holger Meins. Gegen ihn (und weitere) erstattete Rechtsanwalt von Plottnitz im Namen von Meins’ Angehörigen sowie im eigenen Namen Strafanzeige wegen Mordes (Auszüge der Strafanzeige sind abgedruckt in Stuberger, „In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u.a.“, 5. Aufl. 2014, S. 195 f.; vollständig, aber schlecht lesbar, befindet sich die Strafanzeige auch im Anhang zu Anlage 1 zum Protokoll vom 19. Juni 1975, 7. Verhandlungstag, S. 644 ff.). Eine auf die Ereignisse um den Tod Holger Meins’ gestützte Ablehnung des Vorsitzenden Dr. Prinzing wegen Besorgnis der Befangenheit durch die Angeklagte Ensslin findet sich in Anlage 1 zum Protokoll vom 19. Juni 1975 (7. Verhandlungstag, S. 620 ff.). Die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden Dr. Prinzing befindet sich auf S. 677 ff. (ebenfalls 7. Verhandlungstag).
[58] Bei seinem Auszug aus der Wohnung in der Seidenstraße (Stuttgart) vergaß Ian MacLeod wohl die Entfernung des Türschildes; auch eine Ummeldung erfolgte nicht. Nachdem Ermittlungsergebnisse auf die Nutzung der Wohnung durch Mitglieder der RAF hinwiesen, entstand dadurch auch ein Verdacht gegen MacLeod. Am 25. Juni 1972 wurde er in seiner (neuen) Stuttgarter Wohnung von einer Polizeieinheit erschossen. Ein Polizeibeamter gab zwei Schüsse durch die geschlossene Schlafzimmertür ab, einer traf den unbewaffneten MacLeod tödlich. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart erhob gegen den Schützen Anklage wegen fahrlässiger Tötung, die zuständige Strafkammer lehnte jedoch die Eröffnung des Hauptverfahrens ab (Birkenmeier, DIE ZEIT, Ausgabe 26/1972 vom 30.6.1972; Pflieger, Die Rote Armee Fraktion, 3. Aufl. 2011, S. 34; Rech, Südwest Presse, 24.6.2017).
[59] S. bereits Fn. 46.
[60] Gegen die vom Verfahren ausgeschlossenen Rechtsanwälte Dr. Croissant, Groenewold und Ströbele wurden Ermittlungsverfahren wegen der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet. Am 23. Juni 1975 wurden die Kanzleiräume der Rechtsanwälte Dr. Croissant, Groenewold und Ströbele sowie der Rechtsanwältin Becker durchsucht. Rechtsanwältin Becker wurde einen halben Tag festgehalten und schließlich wieder entlassen, Dr. Croissant und Ströbele wurden verhaftet (s. hierzu die Ausführungen des Rechtsanwalts Dr. Heldmann am 9. Verhandlungstag, S. 748 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, und der Rechtsanwältin Becker, S. 754 f. des Protokolls). Rechtsanwalt Dr. Croissant wurde am 16.2.1979 vom LG Stuttgart zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten, Rechtsanwalt Groenewold am 10.7.1978 vom OLG Hamburg zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung und Rechtsanwalt Ströbele am 24.3.1982 vom LG Berlin zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Gegen Rechtsanwalt Dr. Croissant wurde ein vierjähriges Berufsverbot verhängt (Pflieger, Die Rote Armee Fraktion, 3. Aufl. 2011, S. 52), gegen Rechtsanwalt Groenewold ein Teilberufsverbot für Strafsachen für die Dauer von fünf Jahren, wovon zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits vier durch ein vorläufiges Berufsverbot abgegolten waren (Interview mit K. Groenewold, in Diewald-Kerkman/Holtey [Hrsg.], Zwischen den Fronten, 2013, S. 49, 70 f.).
[61] S. bereits Fn. 57.
[62] Der dringende Tatverdacht ist Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls (§§ 112, 114 StPO) und erfordert eine große Wahrscheinlichkeit, dass die verdächtige Person die jeweilige Tat begangen hat, sowie dass keine Rechtfertigungs- Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgründe vorliegen, mithin eine große Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung. Die Prognose ist zum Zeitpunkt des jeweiligen Standes der Ermittlungen zu treffen (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Aufl. 2020, § 112 Rn. 5 f.).
[63] Ehrengerichtsverfahren (heute: anwaltsgerichtliche Verfahren) können im Falle einer Verletzung berufsrechtlicher Pflichten von Anwält/innen durch die Staatsanwaltschaft vor speziellen Anwaltsgerichten, früher „Ehrengerichte“ eingeleitet werden (§ 121 BRAO). Diese können verschiedene Maßnahmen gegen den Rechtsanwalt/die Rechtsanwältin verhängen; diese reichen - je nach Schwere des Verstoßes - von einer Warnung (§ 114 Abs. 1 Nr. 1 BRAO) bis zum Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft (§ 114 Abs. 1 Nr. 4 BRAO a.F.; heute: § 114 Abs. 1 Nr. 5 BRAO). Gegen die Verteidiger/innen in den RAF-Prozessen wurden zahlreiche solcher Ehrengerichtsverfahren eingeleitet (s. dazu etwa das Interview mit R. von Plottnitz, in Diewald-Kerkman/Holtey [Hrsg.], Zwischen den Fronten, 2013, S. 91, 95 f.; s. auch die Dokumentation von Ehrengerichtsverfahren von Spangenberg, Kritische Justiz 1976, S. 202).
[64] Ende November 1974 führten Polizeibehörden bundesweit die Fahndungsaktion „Winterreise“ durch. Dabei durchsuchten sie zahlreiche Wohnungen, Büros und Verlagshäuser nach Unterstützer/innen krimineller Vereinigungen. Die Aktion führte zwar nicht zu großen Festnahmen, ließ jedoch einige Sympathisant/innen aufschrecken. Die Fahndung war von der Innenministerkonferenz beschlossen worden, nachdem der Hungertod von Holger Meins und die Ermordung des Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann im Herbst 1974 zu einer Verschärfung des Konflikts zwischen linksterroristischen Gruppen und den Sicherheitsbehörden geführt hatten (Weinhauer, in Weinhauer/Requate/Haupt [Hrsg.], Terrorismus in der Bundesrepublik, 2006, S. 244, 255 f.).
[65] Während § 238 Abs. 1 StPO die „Leitung der Verhandlung“ dem/der Vorsitzenden überträgt, beinhaltet § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, „auf die Sachleitung bezügliche Anordnungen des Vorsitzenden“ zu als unzulässig zu beanstanden, mit der Folge, dass das Gericht hierüber entscheidet. Die Abgrenzung der beiden Begriffe - dem der Verhandlungs- und dem der Sachleitung - wurde lange Zeit nach abstrakten Kriterien vorgenommen. Unterschieden wurde zwischen der formalen Verhandlungsleitung, die lediglich die äußere Form des Verfahrens betreffe, und der materiellen Sachleitung, die auf die Förderung der Verhandlung unmittelbar im Hinblick auf das Urteil gerichtet sei (so etwa noch BGH, Urt. v. 13.12.1956 - Az.: 4 StR 489/56, NJW 1956, S. 271). Gestützt auf die Funktion der Beanstandung, nämlich die prozessordnungskonforme Urteilsfindung durch Korrekturmöglichkeiten bereits in derselben Instanz zu gewährleisten, hat sich inzwischen allerdings eine andere Auffassung durchgesetzt. Als Rügegegenstand kommen daher auch äußerlich formale Anordnungen des/der Vorsitzenden in Betracht, solange sie sich auf die Urteilsfindung auswirken können. Entscheidend ist, ob Verfahrensbeteiligte darlegen können, durch die Anordnung in ihren (prozessualen) Rechten beeinträchtigt zu sein (Becker, in Löwe/Rosenberg [Begr.], Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 6, 27. Aufl. 2019, § 238 Rn. 19 f.).
[66] S. bereits Fn. 6.
[67] Anlage 2 zum Protokoll vom 21. August 1975: Ablehnung des Vorsitzenden Dr. Prinzing sowie der Richter Dr. Foth, Dr. Breucker, Maier und Dr. Berroth wegen Besorgnis der Befangenheit durch die Angeklagte Meinhof.
[68] Der Grund, aus welchem Richter/innen abgelehnt werden, muss nach § 26 Abs. 2 Satz 1 StPO glaubhaft gemacht werden. Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn das Gericht sie für überwiegend wahrscheinlich hält (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Aufl. 2020, § 26 Rn. 7). Die Glaubhaftmachung erfordert damit eine geringere Form der Überzeugung als der sog. Vollbeweis. Die Glaubhaftmachung genügt nur dort, wo das Gesetz sie ausdrücklich zulässt. Mittel der Glaubhaftmachung kann auch das Zeugnis des/der abgelehnten Richter/in sein (§ 26 Abs. 2 Satz 3 StPO).
[69] Eine Ablehnung ist nach § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO als unzulässig zu verwerfen, wenn „durch die Ablehnung offensichtlich das Verfahren nur verschleppt oder nur verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden sollen“.
[70] Stellungnahmefrist und voraussichtliche Fortsetzung der Hauptverhandlung.
[71] Dienstliche Äußerung des Vorsitzenden Dr. Prinzing.
[72] Dienstliche Äußerung des Richters Dr. Foth.
[73] Dienstliche Äußerung der Richter Maier, Dr. Berroth und Dr. Breucker.
[74] Stellungnahme der Rechtsanwältin Becker, des Rechtsreferendars Dr. Temming, sowie der Rechtsanwälte Schily, von Plottnitz und Dr. Heldmann (vertreten durch Rechtsanwalt von Plottnitz) zur dienstlichen Äußerung des Vorsitzenden Dr. Prinzing.
[75] Stellungnahme der Rechtsanwältin Becker, des Rechtsreferendars Dr. Temming, sowie der Rechtsanwälte Schily und von Plottnitz zur dienstlichen Äußerung des Richters Dr. Foth.
[76] Verfügung vom 21. August 1975: Fortsetzung der Hauptverhandlung am 26.8.1975, 9.00 Uhr.
[a] Maschinell durch * eingefügt: (als Vertretr. von RA Schlaegel)
[b] Maschinell eingefügt: als Vertr. von RA. Riedel
[c] Handschriftlich durchgestrichen: aufgestellten
[d] Maschinell eingefügt: nicht
[e] Handschriftlich ersetzt: Wir durch Sie
[f] Maschinell ersetzt: RA durch G.Ref.Dr.T.
[g] Maschinell ersetzt: RA durch G.Ref.Dr.T.
[h] Maschinell eingefügt: nunmehr auch
[i] Handschriftlich ersetzt: der durch für
[j] Maschinell ergänzt: einen
[k] Maschinell durchgestrichen: Terroristen
[l] Maschinell durchgestrichen: selbst
[m] Maschinell ergänzt: Anspruch angetreten ist und in der brutalen Barbarei geendet
[n] Handschriftlich ersetzt: Es durch Er
[o] Handschriftlich eingefügt: (Deutsche Nat. Z.)
[p] Handschriftlich ergänzt: dieser
[q] Handschriftlich ergänzt: Eine
[r] Handschriftlich durchgestrichen: weiterer
[s] Handschriftlich ersetzt: Verteilung durch Verteidigung
[t] Handschriftlich durchgestrichen: dieser
[u] Handschriftlich ersetzt: es durch er
[v] Handschriftlich eingefügt: mit
[w] Handschriftlich ersetzt: steigernden durch steigernder
[x] Handschriftlich eingefügt: in
[y] Handschriftlich eingefügt: des
[z] Handschriftlich eingefügt: hat
[aa] Handschriftlich ergänzt: zusammenzufassen
[bb] Handschriftlich ergänzt: zeilen
[cc] Handschriftlich ergänzt: Judenprogromen
[dd] Maschinell eingefügt: das
[ee] Handschriftlich eingefügt: die
[ff] Handschriftlich eingefügt: er
[gg] Handschriftlich ergänzt: ertrüge
[hh] Handschriftlich durchgestrichen: wurden
[ii] Handschriftlich ergänzt: fortzusetzen
[jj] Handschriftlich ergänzt: Landkreis
[kk] Handschriftlich eingefügt: es
[ll] Handschriftlich eingefügt: in
[mm] Handschriftlich ersetzt: öffentlichen durch öffentlicher
[nn] Handschriftlich ersetzt: anzustellen durch anzuschließen