39. Verhandlungstag

Fortsetzung der Hauptverhandlung am Dienstag, den 23.9.1975, 9.08 Uhr



[3111] Fortsetzung der Hauptverhandlung am Dienstag, den 23.9.1975, 9.08 Uhr

(39. Verhandlungstag)

Gericht und Bundesanwaltschaft erscheinen in derselben Besetzung wie am 1. Verhandlungstag.

Urkundsbeamte:

Just. Sekr. Janetzko und Just. Ass. z. A. Scholze

Die Angeklagten waren anwesend mit ihren Verteidigern, Rechtsanwälte Riedel, Pfaff, v[on] Plottnitz, Rechtsreferendar Düx, Rechtsreferendar Dr. Temming, Becker (als amtl. bestellter Vertreter[1] von RA Schily)[a] Künzel, Schnabel, Schwarz, Linke und Grigat.

Vors.:

Ich bitte Platz zu nehmen. Wir setzen die Verhandlung fort.

Die Herren Rechtsanwälte König und Schlaegel sind entschuldigt.

Herr Rechtsanwalt Eggler wird sich wohl verspätet haben.

Herr Rechtsanwalt Becker ist anwesend, Herr Rechtsanwalt Pfaff, Herr Referendar Dr. Tümmel ...

Referendar Dr. T[emming]:

Dr. Temming.

Vors.:

Temming, Entschuldigung, Temming. Sie sind an sich für heute nicht avisiert.

Rechtsanwalt Eggler erscheint um 9.09 Uhr.[b]

RA R[iedel]:

(Anfang unverständlich) ... und in der Funktion tätig zu werden als mein Vertreter, sondern das ...

Vors.:

Als das, sozusagen sich einzuarbeiten.

RA R[iedel]:

Nein, nicht als Gast, sondern als stiller Teilnehmer ...

Vors.:

Gut, das gilt ...

RA R[iedel]:

... für[c] den Fall, daß eine Vertretung im Verlauf der Woche notwendig werden sollte.

Vors.:

Gut, das gilt auch für Herrn Referendar Düx.

RA v[on] P[lottnitz]:

Genau so, ja.

Vors.:

Ja, dann ist die Verteidigung voll gewährleistet.

Herr Rechtsanwalt Eggler ist inzwischen erschienen.

Inzwischen liegen die gutachtlichen Äußerungen der Herren Professoren Rasch, Ehrhardt, Mende, Schröder und Müller[2] vor. [3112] Die abschließenden Gutachten[3] legen den Schluß nahe, daß die Angeklagten nur zeitlich beschränkt verhandlungsfähig[4] und behandlungsbedürftig sind. Prof. Rasch meint, „die Durchführung einer Behandlung dürfte während der Dauer der Hauptverhandlung und bei Beibehaltung der jetzt gegebenen Haftbedingungen nicht möglich sein.“ Die Gutachten sind den Beteiligten inzwischen im Wortlaut bekanntgemacht. Das Gericht muß sich nun über die rechtlichen Konsequenzen klar werden. In Betracht könnten kommen, die Aussetzung der Hauptverhandlung[5] oder die Fortsetzung der Hauptverhandlung mit den Angeklagten, unter angemessener Beschränkung der Verhandlungszeit, oder die Fortsetzung der Hauptverhandlung ohne die Angeklagten nach § 231a StPO. Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu ist gegeben, bis zum Donnerstag, 25.9., 16.00 Uhr. Die Gutachten und ihre Konsequenzen im Rahmen der Hauptverhandlung mündlich zu erörtern, ist nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung nicht erforderlich.[6] Der Senat beschreitet deshalb - schon um wegen der naheliegenden zeitlich beschränkten Verhandlungsfähigkeit die Hauptverhandlung nicht unnötig zu belasten - den schriftlichen Weg.

Ich schließe damit die heutige Hauptverhandlung und lade alle Beteiligten zur Fortsetzung auf Dienstag, 30.9., 9.00 Uhr in diesen Saal und bitte aus den angegebenen Gründen um Verständnis für die Kürze der heutigen Verhandlung.

- Ende der Sitzung 9.11 Uhr -

Ende Band 175


[1] Die amtliche Bestellung allgemeiner Vertreter/innen erfolgt nach § 53 BRAO in Fällen längerer Abwesenheit oder im Voraus für alle Verhinderungsfälle in einem bestimmten Zeitraum. Dem/der amtlich bestellten Vertreter/in stehen nach § 53 Abs. 7 BRAO die gleichen anwaltlichen Befugnisse wie der vertretenen Person zu. Nach § 53 Abs. 3 Satz 2 BRAO a.F. konnte die Landesjustizverwaltung auch Referendar/innen, die seit mindestens 12 Monaten im Vorbereitungsdienst beschäftigt waren, zu allgemeinen Vertreter/innen bestellen (heute § 53 Abs. 4 Satz 2, wobei die Bestellung inzwischen nicht mehr durch die Landesjustizverwaltung erfolgt, sondern durch die Rechtsanwaltskammer).

[2] Da die vollständige Verhandlungsfähigkeit - d.h. die Fähigkeit „in und außerhalb der Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben oder entgegenzunehmen“ (BGH, Beschl. v. 8.2.1995 - Az.: 5 StR 434/94, BGHSt 41, S. 16, 18) - der Angeklagten durch die Verteidigung seit Beginn der Hauptverhandlung immer wieder bestritten wurde, beauftragte das Gericht mit Beschluss vom 18.7.1975 schließlich eine Kommission aus Sachverständigen verschiedener Fachrichtungen mit der Begutachtung der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten. Zur Chronologie der Beauftragungen der verschiedenen Gutachter s. die Ausführungen des Rechtsanwalts von Plottnitz am 26. Verhandlungstag (S. 2093 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung). Der Beschluss selbst ist nicht im Protokoll enthalten, vgl. aber den ergänzenden Beschluss in Anlage 2 zum Protokoll vom 29.7.1975 (S. 1570 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, 20. Verhandlungstag).

[3] Die Gutachten sind im Protokoll nicht enthalten. Auszüge finden sich in Bakker Schut, Stammheim, 2. Aufl. 2007, S. 207 ff., sowie Stuberger, „In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u.a.“, 5. Aufl. 2014, S. 117 ff. Dem lässt sich entnehmen, dass die Internisten Prof. Dr. Müller und Prof. Dr. Schröder von einer eingeschränkten Verhandlungsfähigkeit von drei Stunden pro Tag ausgingen, wobei kürzere Pausen nicht mit einzubeziehen seien (Bakker Schut, Stammheim, 2. Aufl. 2007, S. 208). Prof. Dr. Rasch kam zu folgendem Ergebnis: „Es kann davon ausgegangen werden, daß bei drei Verhandlungstagen in der Woche die Angeklagten jeweils am Vormittag - also 3-4 Stunden - verhandlungsfähig sind. Allfällige Verhandlungspausen sind von dieser Spanne nicht abzuziehen. Jeder Gerichtserfahrene weiß, daß Verhandlungspausen, die in der Regel eingelegt werden für die Vorbereitung von Anträgen oder Beschlüssen, von den übrigen Prozeßbeteiligten nicht zu einer Erholung genutzt werden können, zumal die Pausen im allgemeinen eine nicht voraussehbare Zeitspanne umfassen. [...] Hinzu kommt, daß es bei jedem Angeklagten zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes kommen kann, deren Eintrittszeitpunkt jetzt nicht voraussehbar ist“ (zit. nach Stuberger, „In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u.a.“, 5. Aufl. 2014, S. 118).

[4] Die Verhandlungsunfähigkeit bildet ein vorübergehendes oder dauerndes Verfahrenshindernis (§§ 205, 206a StPO). Eingeschränkter Verhandlungsfähigkeit kann durch die Anordnung besonderer Maßnahmen (ärztliche Unterstützung, Einlegung von Erholungspausen o.ä.) begegnet werden (s. dazu auch Rechtsanwalt Dr. Heldmann auf S. 1255 f. des Protokolls der Hauptverhandlung, 15. Verhandlungstag).

[5] Nach § 231a StPO kann die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten fortgeführt werden, wenn diese noch nicht zur Anklage vernommen wurden, sie sich vorsätzlich und schuldhaft in den Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt haben und das Gericht ihre Anwesenheit nicht für unerlässlich hält. Die Norm wurde durch das Gesetz zur Ergänzung des Ersten Strafverfahrensreformgesetzes vom 20. Dezember 1974 (BGBl. I, S. 3686) eingeführt. Bereits vor dem Inkrafttreten der neuen Norm war eine solche Vorgehensweise zumindest für den Zeitraum nach Vernehmung der Angeklagten zur Sache (§ 243 Abs. 4 StPO a.F.; heute: Abs. 5) zulässig, da das eigenmächtige Versetzen in den Zustand der Verhandlungsunfähigkeit mit dem eigenmächtigen Entfernen der Angeklagten aus der Hauptverhandlung gleichgesetzt wurde (so BGH, Urt. v. 22.4.1952 - Az.: 1 StR 622/51, BGHSt 2, S. 300, 304). Für diesen Fall galt schon damals § 231 Abs. 2 StPO, der die Fortsetzung der Hauptverhandlung in Abwesenheit der Angeklagten ermöglichte. Die Einführung des § 231a StPO führte nur insofern zu einer Verschärfung der Rechtslage, als dass die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten nun bereits vor Abschluss der Vernehmung zur Sache möglich wurde. Für die Zeit danach ist auch heute noch § 231 Abs. 2 StPO anwendbar (Becker, in Löwe/Rosenberg [Begr.], Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Band 6, 27. Aufl. 2019, § 231 Rn. 16 und § 231a Rn. 1 f., 10; Meyer-Goßner, in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Aufl. 2020, § 231 Rn. 17 ff.).

[6] Die Frage der Verhandlungsfähigkeit ist im sog. Freibeweisverfahren zu beantworten. Dieses findet Anwendung zum Beweis von Tatsachen, die nicht die Straf- oder Schuldfrage, d.h. den Tathergang, die Schuld des Täters/der Täterin sowie die Höhe der Strafe, betreffen. Im Unterschied zum dort anzuwendenden Strengbeweisverfahren ist das Gericht im Freibeweisverfahren nicht auf die Wahl bestimmter Beweismittel beschränkt, sondern kann grundsätzlich alle verfügbaren Erkenntnisquellen nutzen; auch an die im Strengbeweisverfahren vorgeschriebene Form ist es nicht gebunden (BGH, Urt. v. 28.6.1961 - Az.: 2 StR 154/61, BGHSt 16, S. 164, 166). Einschränkungen ergeben sich im Freibeweis weder aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatz, noch aus dem Prinzip der Mündlichkeit (Krehl, in Hannich [Hrsg.], Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 244 Rn. 16).


[a] Maschinell eingefügt: (als amtl. bestellter Vertreter von RA Schily).

[b] Maschinell von oben eingefügt: Rechtsanwalt Eggler erscheint um 9.09 Uhr.

[c] Maschinell eingefügt: für