[5560] Fortsetzung der Hauptverhandlung am Dienstag, 30. Dez. 1975, 9.04 Uhr
(61. Verhandlungstag)
Gericht und Bundesanwaltschaft erscheinen in derselben Besetzung wie am 1. Verhandlungstag, mit Ausnahme von OStA Holland und Reg. Dir. Widera.
Als Urkundsbeamte sind anwesend:
Amtsinspektorin Benz
Justizobersekretär Janetzko.
Die Angeklagten sind nicht anwesend.[1]
Als deren Verteidiger sind anwesend:
RAe Becker (als amtl. best. Vertr. f. RA Schily), Eggler, Schnabel, Schwarz, Schlaegel, Linke, Grigat und Hauser (als amtl. best. Vertr. f. RA König).
- Beim Eintreten des Gerichts bleiben einige Zuschauer sitzen. -
Vors.:
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei der ersten Begrüßung des Gerichts sich erheben würden. Danke.
Ich bitte Platz zu nehmen. Das Gericht erwartet diese Höflichkeit nicht während der Sitzung, aber beim ersten Betreten ist das die übliche Form und wir wollen sie da auch wahren. Wir setzen die Sitzung fort. Die Verteidigung ist gewährleistet. Herr RA Künzel wird sich wohl verspäten. Die Angeklagten haben mitteilen lassen, daß sie heute nicht beabsichtigen, die Gelegenheit wahrzunehmen, sich zur Sache einzulassen.[2] Die Sitzung dient damit heute vorwiegend der Fristwahrung.[3]
RA Künzel erscheint um 9.05 Uhr im Sitzungssaal.
Wir beabsichtigen nur ein Urteil zu verlesen.
Herr RA Becker, können Sie zunächst sagen, ist Herr RA Dr. Heldmann verhindert?
[5561] RA Be[cker]:
Nein, Herr RA Dr. Heldmann ist in Stammheim anwesend. Er wird sofort kommen. Er ist gerade noch bei einem Mandantenbesuch. Wie lange wird denn beabsichtigt ...?
Vors.:
Ich kann noch nicht sagen genau, wie es läuft, aber jedenfalls nicht länger als den heutigen Vormittag. Es geht also nur um das Verlesen. Zur Verlesung wird kommen das Urteil gegen Rolf Pohle.[4] Dem Gericht liegt eine beglaubigte Ausfertigung vor. Die Ausfertigung trägt noch keinen Rechtskraftvermerk,[5] wobei dies hier unschädlich ist, da es gerichtsbekannt ist, daß dieses Urteil rechtskräftig geworden ist.
Gem. § 249 StPO[6] wird das Urteil gegen Rolf Ludwig Pohle des Landgerichts München I, 5. Strafkammer, vom 1.3.1974 - Az.: 2 KLs 5/72, V 105/72 - bis Seite 40, 1. Absatz, verlesen - aus Ordner Urteile Bd. III Bl. 328 - 487.
RA Dr. Heldmann erscheint während der Verlesung um 9.10 Uhr im Sitzungssaal.
Vors.:
Es wurde bis Seite 40 verlesen. Es folgt nun der Abschnitt C) 1) a). Er befaßt sich mit Vorgängen, die eine andere Gruppierung betreffen als hier. Um die Beteiligten zu informieren: in Betracht kommen die Namen Siepmann und Ralf Reinders. Ich würde also vorschlagen, daß wir das hier nicht einführen. Das hat überhaupt keinen Bezug zu unserem Verfahren. Legt irgendeiner der Beteiligten Wert darauf, daß das auch verlesen wird? Nicht. Wir beabsichtigen, über das Verlesene hinaus wohl nur noch die rechtliche Würdigung bekanntzugeben.
RA Be[cker]:
Bitte, haben Sie sich schon darüber geeinigt, ob Sie das beabsichtigen?
Vors.:
Nein, wir sprechen gerade darüber, Herr Rechtsanwalt Becker. (Nach geheimer Beratung): Die Beweiswürdigung wollen wir bewußt auslassen. Die rechtliche Würdigung scheint nicht notwendig zu sein, daß die bekanntgegeben wird. Strafzumessung interessiert hier nicht. Legt irgend jemand Wert auf weitere Teile dieses Urteils? Daß die durch Urkundenbeweis eingeführt werden? Ich sehe nicht. Das Gericht beabsichtigt, über diese Verlesung hinaus heute nichts mehr zu unternehmen. Wir wären dann am Ende dieser Sitzung. Fortsetzung der Sitzung am ... Herr Rechtsanwalt Schnabel.
RA Schn[abel]:
Ich habe einen Antrag zu stellen.
Vors.:
Bitte.
[5562] RA Schn[abel]:
Ich beantrage:
Die Ladung und Vernehmung des Polizeipräsidenten Knut Müller, zu laden über das Polizeipräsidium Frankfurt am Main.
Zum Beweis dafür, daß 1. der Angeklagte Baader während der in der Anklageschrift angesprochenen Aktion am Hofeckweg in Frankfurt am Main keine gezielten Schüsse auf Polizeibeamte abgegeben hat. 2. Der Angeklagte Baader sich während dieser Aktion bis zu seiner Festnahme nicht außerhalb der Garage aufgehalten hat.
Vors.:
Gut, wir werden zu einem[a] späteren Zeitpunkt über den Antrag entscheiden. Sonstige Wortmeldungen? Ich sehe nicht. Dann setzen wir die Sitzung am Montag, 12. Januar 1976, um 9.00 Uhr in diesem Saale fort. Bis dahin Unterbrechung.
Ende der Sitzung 10.01 Uhr.
Ende des Bandes 305.
[1] Die Angeklagten Baader, Meinhof und Raspe wurden wegen fortgesetzter Störung der Hauptverhandlung nach § 177 GVG i.V.m. § 231b Abs. 1 StPO für den restlichen Sitzungsmonat von der Hauptverhandlung ausgeschlossen (s. dazu S. 4520 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, 52. Verhandlungstag, betr. den Angeklagten Raspe, sowie S. 4784, 4789 f. des Protokolls, 54. Verhandlungstag, betr. die Angeklagten Baader und Meinhof). Die Angeklagte Ensslin hätte an der Hauptverhandlung teilnehmen können. Die Strafprozessordnung sieht eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht der Angeklagten vor (§ 231 Abs. 1 StPO). Dass es den Angeklagten in diesem Verfahren freigestellt war, die Hauptverhandlung zu verlassen, ergab sich aus der Annahme der vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführten Verhandlungsunfähigkeit, die nach § 231a StPO grundsätzlich die Verhandlung in Abwesenheit der Angeklagten ermöglicht (s. hierzu den Beschluss des 2. Strafsenats, abgedruckt in Anlage 1 zum Protokoll vom 30. September 1975, S. 3124 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, 40. Verhandlungstag), sowie der Vorgabe des BGH, den Angeklagten dürfe ihre Anwesenheit nicht untersagt werden (BGH, Beschl. v. 22.10.1975 - Az.: 1 StE 1/74 - StB 60-63/75, BGHSt 26, S. 228, 234).
[2] Dass die Vernehmung der Angeklagten zur Sache, die eigentlich vor Eintritt in die Beweisaufnahme erfolgt (§§ 243, 244 StPO), zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden hat, hat folgenden Hintergrund: Die Vernehmung zur Person fand am 26. Verhandlungstag in Abwesenheit der wegen Störung der Hauptverhandlung ausgeschlossenen (§ 177 GVG i.V.m. § 321b StPO) Angeklagten statt, indem Angaben über ihre persönlichen Verhältnisse aus der Akte mitgeteilt wurden (s. dazu S. 2139 ff., 2154 des Protokolls der Hauptverhandlung, 26. Verhandlungstag), anschließend wurde die Anklage verlesen. Die Angeklagten waren der Auffassung, die Vernehmung zur Person sei „illegal“ gewesen und müsse vor einer Erklärung zur Sache nachgeholt werden (s. die Ausführungen des Angeklagten Raspe am 37. Verhandlungstag, S. 3053 des Protokolls der Hauptverhandlung). Rechtsanwalt Dr. Heldmann bezeichnete die Vernehmung zur Person als rechtswidrig, da die Angeklagten verhandlungsunfähig gewesen seien (S. 2235 des Protokolls der Hauptverhandlung, 27. Verhandlungstag). Am 37. Verhandlungstag wurde den Angeklagten angeboten, die Erklärung zur Sache zusammen mit der Erklärung zur Person abzugeben (S. 2987 des Protokolls der Hauptverhandlung). Dies lehnten sie jedoch ab, zum einen, da zu diesem Zeitpunkt die Gutachten über ihre Verhandlungsfähigkeit - die aufgrund der höheren Belastung in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung war (s. dazu die Ausführungen der Verteidigung auf S. 2998 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, 37. Verhandlungstag) - noch nicht abgeschlossen waren, zum anderen, da ihre die Erklärung vorbereitenden Anträge (eigenes Tonbandgerät, Korrekturmöglichkeiten des gerichtlichen Protokolls und längere Aufbewahrung der Tonbänder) in der Hauptverhandlung nicht entgegengenommen wurden (S. 2988 ff. des Protokolls der Hauptverhandlung, ebenfalls 37. Verhandlungstag).
[3] Nach § 229 Abs. 1 StPO a.F. durfte die Verhandlung grundsätzlich nur für maximal zehn Tage unterbrochen werden (heute: drei Wochen), im Falle von zehn vorher stattgefundenen Verhandlungstagen aber immerhin einmal auch für 30 Tage (§ 229 Abs. 2 Satz 1 StPO a.F.). Bei Überschreitung der Frist hätte mit der Hauptverhandlung von neuem begonnen werden müssen (§ 229 Abs. 3 StPO a.F.).
[4] Rolf Pohle war ein linker Aktivist aus München. 1969 wurde er aufgrund seiner Teilnahme an den Osterunruhen nach dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke zu 15 Monaten Haft (ohne Bewährung) verurteilt, jedoch im Rahmen der „Brandt-Amnestie“ wieder freigelassen. Nachdem ihm aufgrund seiner Vorstrafe jedoch die Zweite Juristische Staatsprüfung verwehrt blieb, bewegte er sich ab 1970/71 im Umfeld der militanten Münchner Formation „Tupamaros München“. Am 18. Dezember 1971 wurde er verhaftet, als er versuchte, mit einem gefälschten Ausweis Waffen zu erwerben und im März 1974 wegen illegalen Waffenbesitzes und aufgrund seiner angeblichen Zugehörigkeit zur RAF wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Haftstrafe in Höhe von fast sechseinhalb Jahren verurteilt. Er gehörte zu denjenigen Insass/innen, die 1975 durch die Lorenz-Entführung in den Südjemen ausgeflogen wurden. Er verließ den Jemen aber und ging nach Griechenland, wo er 1976 verhaftet wurde. Zunächst lehnten griechische Behörden und Gerichte eine Überstellung in die Bundesrepublik ab. Pohles Auslieferung wurde zum Skandal, als sich viele Unterstützer/innen in Griechenland mit Parolen wie „Übergebt Pohle nicht den Nazis!“ mobilisierten und der Fall vor dem obersten Gericht für Zivil- und Strafsachen (Areopag) verhandelt wurde. Letztlich wurde Pohle im Oktober 1976 ausgeliefert und in die JVA Straubing verlegt. Pohle bestritt bis zu seinem Tod seine Mitgliedschaft in der RAF und wird von der aktuellen Forschung eher der im Entstehen befindlichen Bewegung 2. Juni zugerechnet (Danyluk, Blues der Städte, 2019, S. 513 f.; Hocks, in Kiesow/Simon [Hrsg.], Vorzimmer des Rechts, 2006, S. 129 ff.; Peters, Tödlicher Irrtum, 4. Aufl. 2008, S. 761 Anm. 56; Terhoeven, Deutscher Herbst in Europa, 2014, S. 388 f.).
[5] Ein gerichtliches Urteil erwächst in (formeller) Rechtskraft, wenn kein Rechtsmittel mehr dagegen erhoben werden kann, es also im selben Verfahren unanfechtbar geworden ist. Dies ist der Fall, wenn die Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels abgelaufen ist, oder wenn alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind und eine letztinstanzliche Entscheidung ergangen ist. Mit der Rechtskraft entfaltet die Entscheidung auch ihre dauerhafte Wirkung, die nur in Ausnahmefällen wieder durchbrochen werden kann (Nestler, in Knauer/Kudlich/Schneider [Hrsg.], Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Band 3.1, 1. Aufl. 2019, § 449 Rn. 27). Die sog. materielle Rechtskraft, setzt die formelle voraus und betrifft den Inhalt des Urteils. Sie ist in zweifacher Hinsicht beschränkt: Zum einen bezieht sie sich nur auf die Personen, gegen die das Verfahren gerichtet war (Kudlich, in Knauer/Kudlich/Schneider [Hrsg.], Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Band 1, 1. Auflage 2014, Einleitung Rn. 510). Zum anderen entsteht sie auch nur im Hinblick auf den Tenor, also die Entscheidungsformel, die im Falle einer Verurteilung den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch (sowie bestimmte Nebenentscheidungen) umfasst. Die Entscheidungsgründe entfalten daher keine Bindungswirkung für die Zukunft - weder für andere Straf- noch für Zivilgerichte (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 63. Aufl. 2020, Einl. Rn. 170). Gleichwohl ist es anderen (Straf-)Gerichten nicht verwehrt, die auch in den Entscheidungsgründen dokumentierten Ergebnisse der Beweiserhebung im Wege des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung einzuführen und sie zur Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung (§ 261 StPO) zu machen; dies gilt sogar für nichtrechtskräftige (z.B. aufgehobene) Entscheidungen (BGH, Urt. v. 18.5.1954 - Az.: 5 StR 653/53, BGHSt 6, S. 141; Diemer, in Hannich [Hrsg.], Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019 § 249 Rn. 17).
[6] Urkunden wurden zum damaligen Zeitpunkt ausschließlich durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt (§ 249 Satz 1 StPO a.F.). Heute ist zu diesem Grundsatz eine weitere Möglichkeit des Urkundenbeweises hinzugetreten: Anstelle der Verlesung kann die Urkunde in einigen Fällen mittels Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt werden (§ 249 Abs. 2 StPO), was eine Ausnahme zum sonst im Strengbeweis geltenden Mündlichkeitsgrundsatz darstellt (Kudlich, in Knauer/Kudlich/Schneider [Hrsg.], Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, Band 1, 1. Aufl. 2014, Einl. Rn. 185, 189).
[a] Handschriftlich durchgestrichen: seinem